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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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dass er aus den Überresten nicht einmal einen einzigen vollständigen Leichnam zusammenbekommen kann.“
    „Du hast einen grässlichen Beruf“, stöhnte Dragan.
    „Das meiste, was ich filme, wird gar nicht in der Presse oder im Fernsehen veröffentlicht, jedenfalls nicht in seriösen Blättern oder Nachrichtensendungen. Solche Bilder, die freilich längst nicht alles zeigen, bekommt man daheim höchstens in einem Kulturprogramm am späten Sonntagabend zu sehen, wenn die TV-Anstalten nicht mit unbefugten Zuschauern zu rechnen brauchen.“
    „Ist eine Leiche mit einem sauberen Herzschuss nicht weniger tot als diese in tausend Fetzen zerschossene?“
    „Es macht einen Riesenunterschied, weil jedes Unrecht, jede grausame Tat nicht aus der Welt geschafft wird. Je schlimmer ein Verbrechen, umso länger dauert es, bis es seine entsetzenerregende Wirkung verliert.“
    „Du hast recht, Anica, mit den Opfern, die grausam zu Tode gequält werden, passiert etwas anderes als mit denen, die quasi kurz und schmerzlos umgebracht werden. Und es passiert etwas anderes mit denen, die foltern, vergewaltigen und massakrieren, als mit denen, die sauber töten in einer Situation, die ihnen vielleicht gar keine andere Wahl lässt.“
    „Ist es nicht makaber, Dragan, in dieser Weise über Leben und Tod zu philosophieren? Eins ist schrecklicher als das andere. Es geschieht mit uns allen überall auf dieser Erde etwas, wenn geschieht, was hier geschieht. Ob wir es wissen, es wahrhaben wollen, es verdrängen, es zu spät oder nie erfahren, es ist da und wird bleiben, bleiben in der Welt für eine lange, peinigende Zeit. Wir tun uns alle etwas an, wenn wir zulassen, was hier geschieht.“
    Bevor sie gingen, war die Journalistin versucht, noch einen Blick durchs Teleobjektiv zu werfen. Sie beherrschte sich. „Ach was!“ rief sie. „Heute habe ich Urlaub.“ An ihrer statt schaute Dragan hindurch. Keine Menschen- oder Tierseele war zu sehen, alles lag ruhig und verlassen, beinahe friedlich im gleißenden Sonnenschein, das Apartmenthaus, der Gehsteig, die Fahrbahn und die halb aufgebrochene Straßensperre.
    Die Schandtaten dieses Tages konzentrierten sich an anderen Stellen der zerteilten Stadt, wie das Radio meldete, bevor Anica ihm den Saft abdrehte, und ihnen blieb das Schauspiel erspart, das das aus dem Schauder erregenden Bauch des Bruderkriegs hervorgekrochene Ungeheuer aufführte. Serbische Milizionäre tarnten sich als Krankenpfleger und beschlagnahmten Rettungswagen, sie tauchten Fahnen des Roten Halbmonds schwenkend an den von den Soldaten der UN gehaltenen Straßensperren an der Demarkationslinie auf, flehten: „Habt Mitleid! Lasst uns durch! Wir haben ein sterbendes Kind bei uns!“, und als der Weg freigegeben wurde, dankten sie es dem, der sie durchgelassen hatte, indem sie ihn mit einer Salve aus den Kalaschnikows hinterrücks abknallten.
    Unten auf der Straße vor dem Hotel wollte Dragan wissen: „Wann habe ich dir zuletzt gesagt, dass ich dich liebe, Anica?“
    Sie zog die Augenbrauen hoch, entgegnete: „Wir können es nicht zu häufig sagen, dieses: `Ich liebe dich´.“
    „Wenn wir heiraten würden“, setzte er an, und fuhr auf Anicas mitleidigen Blick hin ungerührt fort: „Wenn..., nur einmal angenommen, wenn wir also irgendwann heirateten, müssten wir uns dreimal trauen lassen. Einmal im Karstgebirge, vor den Gestirnen und dem Kosmos, vor uns selbst, der Schöpfung und vor Gott, der jedem von uns innewohnt und überall ist, dann in der Kirche vor dem Popen und schließlich in der Moschee vor dem Imam. Nur so könnten wir es allen recht machen.“
    „Viermal“, korrigierte Anica lächelnd, „denk an das Standesamt. Aber vergiss es lieber gleich wieder. Außerdem: Es allen recht zu machen, hieße gewissenlos handeln. Das wichtigste wäre, sich dem Wahnsinn des Sektierertums zu widersetzen, der in den Köpfen mancher Zeitgenossen wuchert. Niemand darf ihnen Vorschub leisten, indem er sich anpasst.“
    Unvermittelt erreichte das Paar die halbe Straßenblockade. Seltsamerweise war der restliche Durchgang mit einer quer über die Fahrbahn gespannten Schnur versperrt, und davor stand eine Gruppe von Kindern, das älteste nicht mehr als zwölf Jahre alt. Dragan hielt nach einem verständnisinnigen Blickwechsel mit Anica amüsiert über diese `militärische Operation´ an, sie wollten den Rangen nicht den Spaß verderben. Dass allein die über die Straße gespannte Schnur ihnen als Rollerfahrer hätte gefährlich

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