Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
mehrköpfige Schlange zu äugen“, warf Anica ein, „ich sehe es.“
„Weiter eine Sünderin in tiefem Schlaf“, fuhr der Iguman gebetsmühlenartig fort, „die bei Lebzeiten den Kirchgang am Sonntag verschlief oder in jenem Schlaf verbrachte, der als sündig gilt vor Gott.“
„Und nun kommt der Teufel, wie man unschwer erkennt“, meinte Anica, „in braunvioletter Nacktheit auf sie zugeflogen, um sie zu küssen.“
„Das Bild hat alles, was zu einem bedeutenden Werk gehört“, führte der Greis weiter aus, „und passt in unsere moderne Zeit. Es ist aktionsreich, spannungsgeladen, phantasievoll, intensiv wirkend und vielschichtig, Bilder in Bildern, die Geschichte in Geschichten erzählen, und dazu detailgetreu im Winde wehende Bäume, dargereichte üppige Fruchtschalen, zutrauliche Vögel, ungezähmte Raubkatzen und wunderschöne Frauengesichter sehen lässt, alles Hinweise des östlichen Denkens auf die Vergänglichkeit alles Irdischen und zugleich Bejahung aller Dinge und Wesen in der Natur von...“
„Vergessen Sie Ihre Rede nicht“, unterbrach Anica. „Aber was ist mit dem östlichen Einfluss in heutiger Zeit, in dem auch ein paar Mannsleute eine Rolle spielen?“
Der Pope lächelte nachsichtig. „Ich verzeihe Ihnen“, sprach er mild, „weil Sie eine Journalistin sind aus dem Westen, die es nicht besser weiß. Gerade wollte ich den Bogen spannen von der Kulturhistorie zur aktuellen Politik, wenn auch nicht so abrupt. Doch wie Sie wollen. Die Geschichte ist im Grunde recht einfach. Russland ist von einer Weltmacht zu einer Macht unter anderen geworden. Dies ist bitter für die neuen Herren im Kreml. Sie wollen es nicht wahrhaben und pochen auf den Status einer Großmacht, die sie de facto nicht mehr sind. Das hat Kräfte auf den Plan gerufen, die das Rad der Geschichte zurückdrehen, vielleicht sogar gewaltsam herumwerfen wollen. Gorbatschow, der langjährige Oberkommandierende des Afghanistanfeldzugs, dem viele Leute gern einen Heiligenschein verleihen würden, hat das mit Scharfsinn und Fingerspitzengefühl versucht, mit viel Sinn für Effekte und mit geschickten Täuschungsmanövern. Trotzdem hat man ihn gestürzt. Jelzin bringt andere Voraussetzungen mit und wendet andere Mittel an. Russlands Bindungen zu den Serben sind vor allem kulturhistorischer Art und nicht leugbar...“
„Sie meinen etwa so wie das Verhältnis zwischen China und Nordkorea?“
„Man kann es – wenn man unbedingt will – vergleichen. Und sei es nur, um die Unterschiede deutlich zu machen. Wie Sie wissen, stehen Sie hier auf einer anderen historischen Erde, gewissermaßen im Fadenkreuz der Kulturkreise des Orients und Okzidents. Die Koordinaten sind einmal durch die Kirchenspaltung in ein oströmisches Reich mit orthodoxer, und ein weströmisches mit römisch-katholischer Kirche gezogen worden, und zum zweiten durch die unterschiedliche Fremdherrschaft durch die Habsburger einer- und die Osmanen andererseits. Schauen Sie auf dieses Land! Das harte, wechselvolle Klima hat die herrliche Topografie geprägt und Millionen von Jahren dafür benötigt. Die ebenso harte, aber wechselvollere Geschichte von ein paar hundert Jahren jedoch hat die Menschen so geformt, dass Gott seine Geschöpfe kaum mehr wiedererkennt.“
„Gibt es eine Wahrheit in der Geschichte?“ fragte Anica. „Oder ist alle Geschichtsschreibung nur eine unendliche Kette von Gebrauchsweisheiten? Meist eine Kriegsfibel. Wie zum Beispiel auch die Bibel und der Koran?“
„Wenn wir in unseren modernen Geschichtsbüchern blättern, finden wir neben Zahlen nichts als Vorurteile, Fälschungen, Taktiken, Irrtümer, Missverständnisse und nicht zuletzt Glorifizierungen des Krieges als Historie hochstilisiert oder aufmontiert.“
„Nicht nur in Büchern. Blicken Sie auf die Normandie, wo achtzigjährige Veteranen die Invasion des Zweiten Weltkrieges nachspielend mit Fallschirmen aus Flugzeugen hüpfen.“
„Sehen Sie, das meine ich mit Glorifizierung. Solange man diese Art Tradition hochhält, wird sich jemand finden, der seinerseits einen neuen Grund zu schaffen sucht, stolz auf sich selber zu sein in dieser Manier, um sich dann feiern lassen zu können. Als Held.“
„In Vietnam gab es diesen amerikanischen Ranger...“
„Leutnant Calley, ich erinnere mich gut, die Sache in My Lai“, warf Dragan ein. „Der Ex-Offizier betreibt jetzt einen feinen Juwelierladen, der läuft wie der Teufel, weil die Leute bei einem solchen Helden eben gerne
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