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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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streifte.
    „Ein Kampfhubschrauber wurde abgeschossen“, gab sie Auskunft und lehnte sich zurück an ihn.
    „Ein kroatischer?“
    „Nein, UN.“
    „Was ist mit der Besatzung?“
    „Eine Pilotin, wie ich gesehen habe, Amerikanerin. Schwebend am Fallschirm, konnte sie sich retten. Man hat sie gefangengenommen.“
    „Interessant. Eine Amazone. Was geschieht mit ihr?“
    „Da sie offensichtlich in die Kampfhandlungen eingegriffen hat, wird sie wie eine Kriegsgefangene behandelt.“
    Anica erhob sich, die Kamera in der Hand, sie wurde von dem Mädchen durch eine knappe Geste genötigt zu bleiben, setzte sich resignierend.
„Ihr werdet sie doch nicht erschießen, Brena?“ fragte Zudeck-Perron.
„Mann, sie kommt in ein Gefangenenlager“, versetzte das Mädchen. „Wir erschießen keine Gefangenen. Im Gegensatz zu anderen beteiligten Kriegsparteien halten wir uns an dieses Prinzip. Zumal es der Koran fordert. Falls es dich interessiert, kann ich dir eine Anzahl Gefangener nennen, die von kroatischer, vor allem aber serbischer Seite getötet worden sind. Nicht zu reden von Zivilisten, besonders die Frauen und Kinder unter ihnen. Dass du schon selbst solchen Erschießungen beigewohnt hast, kann ich Bildern entnehmen, die das zeigen. Solche Fotos stammen doch auch von dir, nicht wahr?“
    „Du liest ausländische Blätter, Brena?“ fragte Zudeck-Perron, auf den die sachliche Ruhe, mit der das Mädchen sprach, ihre Wirkung nicht verfehlte.
    „Wir kennen alle Medien, Pavle“, antwortete es, und Zudeck-Perron begriff, dass er einem Menschen gegenübersaß, dessen Intelligenz der seinen in nichts nachstand.
    „Haben Sie diesen Major Sinovic mit dem Foto aus dem Medaillon konfrontieren können?“ fragte Anica aus dem Hintergrund des Raumes.
„Nein“, entgegnete das Mädchen. „Leider. Der kroatische Offizier ist tot. Mutmaßlich ist er für die Gräueltaten verantwortlich.“
„Sie meinen, es ist ein persönlicher Racheakt?“ wollte die Journalistin wissen.
    Das Mädchen zuckte die schmalen Schultern. „Das werden wir wohl niemals genau erfahren. Aber Sie können mit der Veröffentlichung Ihrer Aufnahmen die Welt darüber informieren, dass die Untat von Obaljak jedenfalls nicht so geschehen ist, wie es den Anschein haben sollte.“
    „Diesmal sollen die Menschen die Wahrheit erfahren“, pflichtete Zudeck-Perron dem Mädchen bei.
    „Ach, Pavle“, äußerte Lepa Brena mit kleinem Seufzer, „was ist das: die Wahrheit? Man spricht miteinander, aber man versteht sich nicht, weil ein jeder nur sich selbst zuhört und die Wahrheit für sich gepachtet hat. Wenn aber jedermann die Wahrheit für sich beansprucht, hat sie am Ende keiner. Hört mir zu“, sprach das Mädchen zu den Deutschen, „es gibt drei Wahrheiten: Meine Wahrheit, deine Wahrheit und die Wahrheit. Die Wahrheit gehört niemandem, sie ist Zentrum und gehört allein Gott. Die himmlische Wahrheit wird verkörpert durch das vollkommene Licht und wird daher durch die Sonne symbolisiert. Sie scheint immer, und kein Mensch kann in sie hineinsehen, so wie ihm die himmlische Wahrheit immer verborgen bleibt. Ein Teil der göttlichen Wahrheit macht die irdische Wahrheit aus. Sie wird durch den Vollmond versinnbildlicht. Habt ihr bemerkt, dass während der drei Vollmondtage – der dreizehnte, vierzehnte und fünfzehnte Tag eines jeden Mondmonats – auf der Erde keine Finsternis herrscht? Dann hat der Mensch die beste Gelegenheit, die irdische Wahrheit zu erkennen und kommt der himmlischen Wahrheit am nächsten. Die Sonne geht nicht eher unter, bis die Mondscheibe am gegenüberliegenden Horizont auftaucht, und der Mond verschwindet nicht eher, als bis die Sonne aufgeht. Dieses zaubervolle Schauspiel hat schon der Prophet bewundert.
    Meine Wahrheit und auch deine Wahrheit sind nur Bruchteile der Wahrheit. Sie sind die Mondsicheln zu beiden Seiten des vollen Mondes. Wenn wir diskutieren und dabei nur uns selbst zuhören, kehren sich unsere Mondsicheln die meiste Zeit voneinander ab; und je mehr wir uns auseinandersetzen, desto weiter entfernen sie sich vom Vollmond, mit anderen Worten von der Wahrheit. Wir müssen uns zuallererst einander zukehren, von der Existenz des anderen Kenntnis nehmen und damit beginnen, ihm zuzuhören. Dann werden sich unsere beiden Mondsicheln einander zuwenden, sich allmählich näher kommen und sich am Ende vielleicht im großen Kreis der Wahrheit treffen. Nur da, einzig da, kann sich die Vereinigung vollziehen.“ Während Lepa

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