Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Brena sprach, zeichnete sie auf den Boden den Kreis der Sonne und des Vollmondes und, zu beiden Seiten, die zwei Mondsicheln, wie sie sich zunächst voneinander abkehrten, dann einander gegenüberstanden, sich näher kamen, bis sie schließlich mit dem zentralen Kreis verschmolzen. Und führte weiter aus: „Die entgegengesetzten Mondsicheln sind die divergierenden Wahrheiten, wir sollten stets den konvergierenden Wahrheiten zustreben. Wenn ihr mit jemandem zusammen seid, sucht nicht nach dem, was euch unterscheidet, sucht nach dem, was ihr gemeinsam habt, was euch verbindet, und baut darauf. Bei Halbmond aber seid besonders achtsam.“
Zudeck-Perron sah Lepa Brena bewundernd an. Sein Atem ging schneller. „Kluges Mädchen, schöne Brena“, sagte er, und es klang ehrlich gemeint.
Lepa Brena lächelte. „Ich mag dich leiden, Pavle“, sagte sie. „Vor allem deine Augen.“
Der Fotoreporter bemerkte mit Genugtuung, dass sich Anica in den rückwärtigen Teil des Hauses zurückzog. „Was findest du gut an meinen Augen?“ fragte er und fasste das Mädchen sanft an den Schultern.
„Ich sehe an ihnen, dass du im Grunde ein guter Mensch bist, Pavle. Auch wenn sie gelegentlich heftig blitzen. Doch deine Augen haben dir auch geholfen, solch beeindruckende Fotos vom Krieg zu machen. Die ganze Welt kann sehen, zu was diese gräulichen Kroaten und Serben fähig sind.“
„Du bist sehr liebenswert, schöne Brena“, schmeichelte Zudeck-Perron, küsste sie auf den Hals. Sein Schnauzbart kitzelte sie.
„Du begehrst mich, ja?“ fragte sie, nahm seine Hände, die auf ihren Schultern lagen. Gleichwohl legte sie einen bestimmten Druck hinein, um ihn spüren zu lassen, dass sie ihn auf Distanz halten wollte.
„Ich liebe dich, schöne Brena“, flüsterte er mit fliegendem Atem. „Ich schwöre dir, dass ich dich liebe.“
„Hör mir zu, Pavle, ich mag dich auch. Du bist über vierzig Jahre alt, du hast einen Spitzbauch und einen rot leuchtenden Haarkranz, du brauchst eine Lesebrille für das Kleingedruckte und du bist nicht intelligent. Trotzdem darfst du mich küssen – wie ein Bruder.“
Sie wartete, dass er sich rührte. Als er es tat, fühlte sie sich überrumpelt. „Ich sagte, wie ein Bruder. Küsst man so seine Schwester, he?! Du bist wirklich dumm, Pavle. Versuch´s noch einmal.“
Da näherte er sich wieder ihrem Gesicht, und sie empfand es als sehr langsam, schließlich seufzte er und drückte ihr einen zärtlich-behutsamen Kuss auf die Nasenspitze.
Sie sah lächelnd zu ihm auf. „Besonders klug bist du wirklich nicht, aber du kannst sehr sanft sein. Wenn man es dir nur oft und eindringlich genug sagt. Dann mag ich dich, Bruder Pavle.“
Er drehte sie zu sich um, lächelte sie herzlich an. „Komm, wir setzen uns erst mal, Brena“, sagte er mit sanfter Stimme. „Du musst dich ein wenig ausruhen.“
„Ja“, sagte sie und spürte, wie er einen Arm um ihre Schultern legte, ließ sich von ihm zu einem der Strohballen führen. „Damit du´s weißt, Pavle: Ich halte dich nicht für eine Wolke in Hosen, sondern für ein Mannsbild, und zwar eines, von dem ich nicht ausschließen mag, dass es unter dem Vorwand des einen das andere betreibt.“ Und als er eingeschnappt das gesenkte Haupt schüttelte, schloss sie an: „Es hat keinen Sinn zu leugnen. Lass mich ausruhen, ja? Etwas Erholung kann nicht schaden. Vor dem nächsten Kampf.“
Und als Zudeck-Perron sich anschickte, ihr etwas zu entgegnen, legte sie ihm den Zeigefinger auf den Mund und stimmte ein leises Lied an:
„Bosniens Freiheit heißt unsere Ehre
Und unser Herz schlägt national.
Zum Scheitan all die Fremdenlegionäre,
Jagt ins Meer den Verbrechergeneral.“
31 Die Kriegsgefangene
Die Soldaten, die Mary-Jo Hayward-Ball nach dem Aufwachen aus ihrer Ohnmacht vorsichtig auf die Beine stellten, konnten ihre Züge nicht erkennen, und sie konnte die Männer nicht sehen, die ihr Waffe und Dokumente aus den Taschen zogen. Ihre Augen waren blutverschmiert, und erst als die Pilotin sich mit der Fallschirmseide das Gesicht auswischte, bemerkten die Soldaten, dass sie es mit einer Frau zu tun hatten.
„Die UNO versucht es mit allen Tricks“, sagte ein Soldat.
„Ein Fall für das Mädchen“, sagte ein anderer. „Ich werde sie holen.“
Lepa Brena ahnte nichts von alledem. Ihr waren die Augenlider zugefallen, an der Brust des deutschen Fotoreporters, und sogleich hatte ein tiefer Schlaf von ihr Besitz ergriffen, wie er nur sehr jungen
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