African Boogie
man erst in etwa zwei Meter Entfernung sicher. Eine Zahl schoss ihr durch den Kopf. »Fünfzig bis achtzig Zentimeter«. Und sie sah das Bild eines zweiten T-Shirts vor sich.
Na klar! Das T-Shirt, das Amendt getragen hatte, als er sie vor dem Ertrinken bewahrt hatte. Sie holte es aus dem Safe, faltete es auf und legte es auf das Bett.
Und in diesem Moment, als sie beide T-Shirts nebeneinanderliegen sah, fielen die Puzzlestücke in ihrem Kopf an ihren Platz. Der blaue Fleck. Die Blutspuren. Die anderen Ungereimtheiten. Rasch nahm sie die Akte aus dem Safe, um sich zu vergewissern. Und dort fand sie die Bestätigung, die sie noch brauchte.
Sorgfältig faltete Katharina die T-Shirts zusammen und steckte sie zusammen mit der Akte in ihre Handtasche. Jetzt hatte sie wenigstens für einen Menschen ein Weihnachtsgeschenk.
»Ich hoffe, ich klinge nicht allzu vermessen, aber darf ich Ihnen sagen, wie gut Sie aussehen?«
Alle hatten Katharina angestarrt, als sie in den Restaurantpavillon kam, leichtfüßig, in ihrem Samtkleid, mit offenen, wehenden Haaren. Die Gäste, die Angestellten, die Soldaten. Doch es war ausgerechnet Javier, der ihr ein Kompliment machte, als Katharina an seinem Tisch Platz nahm. Sie spürte, wie ihre Wangen ein wenig warm wurden.
Javier hatte ein sehr charmantes Lächeln. Aber Moment, flirtete er etwa mit ihr? Nein, das konnte nicht sein. Er war doch Priester. Keusch per Gelübde. Oder?
Javier hatte wohl ihre Unsicherheit bemerkt. Doch er lächelte immer noch, während er ihr ein Glas Wein einschenkte: »Verzeihung, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«
In diesem Augenblick betrat Stefan Döring die Empore: ein General nach siegreicher Schlacht, erschöpft, aber aufrecht und glücklich – und in einem frisch gewaschenen Hemd.
»Wir haben es geschafft. Die Brücke steht wieder. Und in den nächsten Tagen können Sie alle nach Hause. Ich sag es ja: Pioniere sind von der schnellen Truppe.«
Die Soldaten klopften beifällig auf die Tische.
»Und nun wollen wir gemeinsam Weihnachten feiern. Wir wollen essen. Wir wollen trinken. Und wir wollen uns darüber freuen, dass wir es überstanden haben. Doch vor dem Vergnügen steht die Pflicht. Der Dank. Deshalb habe ich Pfarrer Javier gebeten, einen kurzen Gottesdienst abzuhalten.«
Javier stand auf und ging zur Empore. Mit warmer, sonorer Stimme begann er zu sprechen. Katharina dachte kurz, dass die Frauen seiner Gemeinde regelmäßig dahinschmelzen mussten, wenn er auf der Kanzel stand, tadelte sich aber gleich darauf für diesen Gedanken.
»In der Tat haben wir viel, wofür wir dankbar sein müssen. Doch vorher möchte ich für diejenigen beten, die nicht so glücklich waren. Für Jens Mandeibel und Claudia Weisz. Für Daniel und Susannah Breugher. Für Albert Norrisch. Für Sabrina Jacheau. Für meinen Bruder im Glauben Pastor Hans Giesler. Für Joachim und Gabriele Bronski. Und zuletzt für Sylvia Schubert. Für all diese Menschen, die einem feigen Mörder zum Opfer gefallen sind, bitte ich unseren Herrn, dass er sie gnädig in seinem Reiche aufnehmen und dass er ihren Mörder strafen möge. Mit irdischer und himmlischer Gerechtigkeit. Lassen Sie uns gemeinsam beten.«
Mit einer Geste forderte er seine Zuhörer auf aufzustehen. Alle gehorchten artig, senkten die Häupter und falteten die Hände.
»Vater unser im Himmel …«
Katharinas Vater war ein wenig leidenschaftlicher Protestant gewesen, ihre Mutter eine unüberzeugte Buddhistin. Also waren Susanne und Katharina konfessionslos geblieben. Dennoch sprach Katharina das Gebet mit, so weit sie sich an den Wortlaut erinnern konnte: Sie musste der himmlischen Macht, die in den letzten Tagen mehrfach schützend die Hand über sie gehalten hatte, mehr als dankbar sein. Sie blickte aus den Augenwinkeln zu Andreas Amendt. Er war das Instrument der Vorsehung gewesen. Er hatte ihr inzwischen dreimal – nein, viermal, sie erinnerte sich daran, dass sie beinahe vom Stahlseil erschlagen worden wäre, als die Brücke einstürzte; er hatte sie in letzter Sekunde weggerissen – das Leben gerettet.
In die Dankbarkeit und Demut, mit der die Gäste das Gebet sprachen, mischte sich Erleichterung. Verständlich. Sie waren verschont geblieben. Hoffentlich für immer. Es musste ihnen gelingen, Dirk-Marjan der irdischen Gerechtigkeit zuzuführen. Aber darüber würde Katharina morgen wieder nachdenken. Jetzt war Heiligabend.
»Amen!«
Alle setzten sich wieder. Javier fuhr fort: »Und jetzt möchte
Weitere Kostenlose Bücher