African Queen
Disziplin. Fleiß ist praktisch, nicht heilig. Er ist ein Werkzeug, kein Fetisch. Wer unnötig fleißig ist, hat in afrikanischen Augen irgendein mentales Problem. Was sie nicht draufhaben? Die Zukunft, zum Beispiel. Sie verstehen nicht, dass man sie manipulieren kann. Sie denken nicht strategisch, sie sind keine Schachspieler auf dem Brett der Zeit. Dass morgen dieses oder jenes geschieht, wenn man heute dieses oder jenes tut, geht in ihren Kopf nicht rein. Auch nicht, dass morgen dieses oder jenes nicht geschieht, wenn man heute dieses oder jenes unterlässt. Beides interessiert sie nicht. Und nun frage ich mich, ob jemand, der keine Vorsorge kennt, eine Sorge weniger hat? Oder, besser, gar keine Sorgen mehr? Sorge braucht immer die Zukunft, niemand sorgt sich um den Moment. Collin meint, wer so die Welt sieht, sei exakt eine Million Mal glücklicher als wir.
Wir sind in seinem Büro. Es ist die Verwaltungszentrale der gesamten Lodge und daher recht groß. Es gibt sieben schöne Schreibtische aus dem Holz der Gegend, und es hängt irre viel Papier an den Wänden. Landkarten, Fotos, Fotokopien, Tabellen, Einsatzpläne und Erste-Hilfe-Instruktionen für Schlangenbisse. Wichtigster Tipp und ganz oben auf der Liste: «Niemals den Witch-Doktor holen!» Ventilatoren an der Decke, Fenster zum Busch, Satelliten-Internet. Handys funktionieren nicht. Telefoniert wird über Skype, und das sind die einzigen Augenblicke, in denen Collin schreit. Ich liebe dieses kleine Großraumbüro im Dschungel, und ich liebe Collin dafür, dass er sagt, es sei auch meins. Er sitzt vor seinem Computer und kaut auf einem Bleistift. Dann steckt er den Bleistift wieder hinters Ohr.
«Glaub mir, Helge, sie sind viel glücklicher als wir. Deshalb weiß ich manchmal nicht, ob es wirklich eine so gute Idee ist, ihnen zu zeigen, wie Unglück funktioniert.»
Collin ist also auch ein kleiner Philosoph. Oder ein großer. Das wird die Nachwelt regeln. Ich kann derzeit nur die Hand dafür ins Feuer legen, dass er großzügig, intelligent und gebildet ist, gesegnet auch mit schwarzem Humor und Willensstärke. Er führt achtzig Afrikaner, er hat anspruchsvolle Gäste, er schlägt sich mit der Buchhaltung, der PR und den Investoren herum, er hat keine Angst vor Krokodilen, und abends, am Feuer, kann er sogar Gitarre spielen und Songs von Pink Floyd zum Besten geben. Er ist jung – ein dreißigjähriger Schotte mit dem Glauben an eine gute Zukunft und der Kraft eines Löwen – und ein ganz klein bisschen arrogant. Collin ist ein guter Mann. Seitdem wir in der Lodge sind, frage ich mich, ob er nicht der bessere Mann für Lisa wäre. Ist das nicht niedlich? Nicht Lisa macht mich eifersüchtig, sondern das, was sie anscheinend nicht sieht. Eifersucht ist übrigens nicht das richtige Wort. Es ist eine vorsorgende Eifersucht, eine Eifersucht, die gewappnet sein will. Stiege Collin tatsächlich gegen mich in den Ring der Liebe, hätte ich keine Chance. Ich kämpfe definitiv nicht mehr in seiner Altersklasse. Dazu kommt das Gefühl, fünftes Rad am Wagen zu sein. Das ist Lisas Lodge, Lisas Job, Lisas Schreibtisch hier, und ich habe es immer gehasst, wenn mich an meinem Arbeitsplatz mein Privatleben besucht hat. Ich weiß, wie peinlich das ist. Und anstrengend ist es auch. Für sie wie für mich. Sie möchte den Ansprüchen der Lodge und meinen Ansprüchen gerecht werden, und dabei kommt unterm Strich eine winzig kleine Überforderung heraus. Und mich strengt die Unterforderung an. Natürlich könnte ich hier, wie es die Volontäre tun, irgendeine Aufgabe übernehmen, aber ich sag’s mal ehrlich, ich mag nichts tun, was ich nicht kann. Ich will also wieder schreiben, und darum freut mich Collins «Mein-Büro-ist-dein-Büro»-Blutsbrüderschaft sehr. Leider darf man hier nicht rauchen, aber auch für dieses Problem hat Collin eine ideale Lösung parat: «Warum schreibst du nicht auf der Terrasse von Peters Haus?»
Peter ist einer der Gründer der Lodge, und sein Haus ist leer, denn er ist derzeit mit einer Ägypterin in Kenia unterwegs. Außerdem steht es am anderen Ende der Bucht, das schafft ein bisschen Distanz zu meiner Freundin. Zwei Strände liegen ab sofort zwischen unseren Arbeitsplätzen, zusätzlich muss man noch ein paar Meter durch den Busch. Dort, wo Strand und Busch aneinandergrenzen, plätschert zur Regenzeit ein kleiner Bach. Jetzt führt er kein Wasser, aber richtig ausgetrocknet ist er auch nicht. Sein Bett präsentiert sich als saisonal
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