African Queen
Fünfzehntausend Quadratkilometer. Kann man sich das bitte mal räumlich vorstellen? Nur Savanne und ein paar Akazienwälder hier und da und ein paar Akaziengruppen und ein paar Akazien solo, ewige Singles, die ihren Schatten aufspannen, Schirme für die wilden Tiere, aber es sind keine wilden Tiere da. Auch keine domestizierten. Kleinere und im Erdreich wohnende sind, falls sie zugegen sind, ebenfalls nicht zu sehen. Trotzdem ist es so beeindruckend wie die Rückführung in ein anderes Leben. Hier bin ich schon mal gewesen. Und Lisa auch. Wir fahren gerade durch eines dieser Akazienwäldchen, und Freddy hat für uns das Dach aufgemacht. Wir stehen vom Kopf bis zur Brust im Freien und atmen den trockenen Wind. Das Licht, die Dämmerung, die unsichtbaren Löwen, hier bin ich schon in unzähligen Filmen und in ein paar ausgesuchten Romanen gewesen, aber ich bin nicht beeindruckt, weil mich die Gegend an faszinierende Geschichten erinnert, sondern weil die Faszination dieser Geschichten diese Gegend gewesen ist. Das wird mir schlagartig, nein, fließend klar. Biographische Instinkte, Seelenbilder, archaische Momente, ich komme aus dieser Gegend. Und Lisa auch. Alle Menschen kommen aus dieser Gegend. Nur Freddy nicht. Spaß! Massais kommen in bunten Tüchern von rechts. Sechs, sieben Männer mit Speeren. Die Art, wie sie sich bewegen, vermittelt gespannte Sorglosigkeit. Haben sie Angst vor den Löwen? Natürlich hat Diego recht, dass du nur schneller als der Letzte sein musst, wenn ein Löwe die Gruppe angreift, aber wie schnell musst du auf der Flucht vor einer Gruppe von Löwen sein? Doch das sind nur theoretische Fragen, in der Praxis sind keine Löwen hier. Nur Massais und unsere Wenigkeiten, und wir schauen uns gegenseitig wie heimliche Verwandte an, und schon sind wir vorbei.
Die Lodge erweist sich dann als wunderbar, aber auch ohne Tierbestand, bis auf ein paar Feldratten, eine Hyäne und eine alte Löwin, die nachts fauchend oder hustend um unseren Bungalow schleicht. Es ist einfach die falsche Zeit. Oder besser deren nahes Ende. Wir hatten gehofft, die Grenze noch irgendwie zu schrammen, aber nicht alle Hoffnungen erfüllen sich. Im Foyer der Lodge hängen zwei riesige Fotos und zeigen den Ausblick, den der Gast von der überdachten Terrasse haben kann. Über den Bildern steht «Dry Season» und «Wet Season». Auf letzterem ist alles satt, grün und voll, ich meine brechend voll, auch mit Tieren, auf dem anderen Foto ist alles vertrocknet, gelbstichig und wie ausgestorben. Wir sind im falschen Foto, und wir besprechen das Problem mit Freddy bei einem Gin Tonic. Und Freddy sagt, no problem, er lässt sich was einfallen.
Pirschfahrt am nächsten Morgen. Seit zwei Stunden auf der Suche nach Tieren. Über drei Millionen soll es in der Serengeti geben. Wir haben bisher zwei gesehen, ein Wildschwein und einen großen Vogel, und für jedes wurde angehalten und das Fernglas gezückt. Freddy ist die Sache einigermaßen peinlich. Er steuert einen ausgetrockneten See an, in dessen Mitte er noch ein paar Pfützen vermutet. Wo Wasser ist, sind auch Tiere, aber es finden sich nur ein paar Gerippe. Freddy spricht über sein Funkgerät mit einem Kollegen, der in der Nähe tourt. Jetzt sehen wir ihn auch. Heia Safari, zwei Jeeps hoppeln weiter gen Norden, dem Regen entgegen. Denn ohne Regen gibt es kein Grün und ohne Grün kein Leben. Eine frustrierende Formel, und natürlich kann Freddy nichts dafür, eigentlich auch seine blonde Chefin nicht. Die einzigen Idioten hier sind Lisa und ich. Wer geht denn schon im Winter mit Badehose an den Nordseestrand oder im Hochsommer in die Sahara oder am Montag zum Friseur? Wir sind etwa drei Tage zu früh, sagt Freddy, aber wenn wir Glück haben, vielleicht nur zwei oder anderthalb, jedenfalls hält er weiter stur nach Norden, und der zweite Jeep macht es wie wir, und immer, wenn sich irgendwo was regt, das größer als eine Feldmaus ist, wirkt Freddy euphorisiert. Das geht noch mal eine Stunde so, und dann, als wir schon längst nicht mehr daran glauben, begegnen wir tatsächlich einem Elefanten, und dieses erste wilde Tier von Belang, das wir in der Serengeti sehen, greift sofort an. Freddy fährt einfach zu nah dran. Er will unbedingt wiedergutmachen, wofür er nichts kann, außerdem hat er zu spät gesehen, dass es ein Bulle ist, und nochmal außerdem weiß er vielleicht nicht, was die Wissenschaft festgestellt hat. Weil die Elfenbein-Wilderer immer brutaler werden und inzwischen
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