African Queen
ich es nicht gesehen hätte, aber die Distanz zwischen ihnen ist immer die gleiche, und sie stehen in einer schnurgeraden Linie, wie organische Telegraphenmasten. Wir fahren etwa fünf Minuten parallel zu dieser Giraffenleitung, bis Lisa plötzlich «Ein Zebra!» ruft und dann «Nein, es sind zwei … nein, zehn …, nein …», und damit haben wir sie erreicht, die Spitze der Spitze der jährlichen Migration. Die Wanderschaft von rund eineinhalb Millionen Gnus und vierhunderttausend Zebras, die mit den Regenwolken vom Süden Kenias nach Tansania ziehen und die immer zusammen gehen, weil sie sich mit ihren Frühwarnsystemen so gut ergänzen. Die Gnus haben eine sehr gute Nase und sehr schlechte Augen, die Zebras riechen schlecht, aber sehen exzellent. Und mit ihnen ziehen alle anderen, die sich von Gras ernähren, sowie jene, die Grasfresser fressen, und auch die sind nicht zu vergessen, die fressen, was von den Grasfressern übrig bleibt, das heißt: Alle kommen auf uns zu, alle Tiere der Serengeti, und obwohl es nur die Spitze der Spitze ihrer großen Wanderschaft ist, sind wir trotzdem plötzlich mittendrin.
Freddy stoppt den Landrover vor zwei Felsen und lässt uns aussteigen, was bisher streng verboten war, aber er sagt «no problem», also geht alles klar. Ich entferne mich ein paar Schritte von dem Wagen und genieße die Illusion, hier wie der erste Mensch allein zu stehen, oder wie einer der ersten, denn Tansania gilt als Wiege der Menschheit, hier kommen wir her, hier haben wir uns aufgerichtet, hier hat der Gang auf zwei Beinen begonnen und unser Weg nach Norden, Süden, Westen und Osten, die Eroberung aller Kontinente sowie die Herrschaft über alle anderen Lebewesen dieses Planeten, und während ich hier stehe und darüber nachdenke, frage ich mich, ob es vielleicht doch ein Fehler gewesen ist, nicht auf allen vieren zu bleiben, denn alles, was ich hier nah und in der Ferne sehe, ist fleischgewordene Schönheit und Harmonie.
Gnus, sie sehen aus wie eine Mischung aus Elch und Bison, und dank ihres langen Bartes kommt ihr Antlitz rüber wie Vater Abraham als Tier. Sie bewegen sich synchron. Im Falle einer Störung, einer Gefahr oder einer anderen Situation, die ihre Aufmerksamkeit erfordert, werfen sie, egal, wie groß die Gruppe ist, unisono ihre Köpfe herum, und man schaut in eine geschlossene Front von muskelbepackten, alttestamentarischen Hornträgern. Drum herum bewegt sich fellgewordenes LSD. Zebras machen einen schwindelig, wenn man auf Tausende von ihnen sieht. Dazwischen schreiten unfassbar elegant alles überragende Giraffen in Zeitlupe und schauen mit sanften Augen auf die Gazellen und Antilopen herunter, die sich wie nervöse Balletttänzer gebärden, und zu diesem Kontrast von Zeitlupe und Zeitraffer passt sehr gut die mittlere Geschwindigkeit, mit der sich die Familien der Giganten bewegen. Die traditionellen Elefantenherden, mit der Matriarchin vorn und den Jungen in der Mitte, ziehen unbesiegbar und deshalb unendlich gelassen durch das Gras und über die grünen Hügel Afrikas, um im Schatten der Schirmakazien ein bisschen zu ruhen und Blätter zu naschen, und auch die Löwen, die faul ein bisschen abseits liegen, sind nicht wirklich fähig, diesen Frieden ernsthaft zu stören, denn sie holen sich nur, was sie kriegen, und sie kriegen wenig mehr als die Kranken und die Schwachen, und ohne sie und ohne die Leoparden, Hyänen und Krokodile gäbe es sehr bald für das Gras in der Savanne zu viele, die das Gras fressen. Die Balance des Großen und Ganzen ist wichtiger als das Einzelschicksal von lahmenden Huftieren, und die Geier, die in weiten Kreisen fliegend nach Aas spähen, sind keine stinkenden Vögel des Schreckens, sondern die höchst ehrenvolle Müllabfuhr der Serengeti, und das alles wirkt wie ein Bild, das ich seit langem in mir trage, wie lange, weiß ich nicht, aber ziemlich lange, darum nenne ich es mal das archaische Bild vom Garten Eden.
Und jetzt mal ohne Scheiß: Gibt es so etwas? In den Zellen gespeicherte Erinnerungen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden? Ist das Naturwissenschaft oder Esoterik, oder ist es genau die Grenze? Dieses Wiedererkennen, dieses Nach-Hause-gekommen-Sein, diese Grüße aus dem Ursprung? In Thailand, zum Beispiel, geht es mir nicht so, egal, wie schön es dort ist, am Amazonas hatte ich auch nicht den Eindruck, dass meine Gene mit der Gegend was zu tun haben, im Himalaya, ja, da habe ich den Wiedererkennungseffekt, aber der
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