Afrika Quer (German Edition)
erzählt: „Ich habe schon ein paar Mal zu ihm gesagt: ,Warum gehst du nicht weg aus Tillamedess? Du kannst bei mir in Timbuktu wohnen. Das ist überhaupt kein Problem. Ich helfe dir.’“
Deshalb dachte ich, der Weg von Tillamedess nach Timbuktu war für Aguissa schon mehr als eine Fahrt von drei Stunden. Und dass er es, als er aus seinem Geburtsort wegging, schon als bewusste Befreiung empfunden hat.
Aber nun behauptete er auf einmal, all das habe er nie gesagt. „Mein Bruder ist Hirte“, sagte er nun. „Er kann nicht von dort weggehen. Wenn er keine Milch bekommt, wird er krank.“
Was stimmte nun? Ich war sicher, dass er all das erzählt hatte. Aber Aguissa sprach nicht gut Französisch. Vielleicht hatten wir uns ja missverstanden. Doch bald merkte ich, dass es nicht an seinem Französisch lag, und dass wir uns nicht missverstanden hatten. Sondern dass hier vielmehr eine kleine Lektion in Geschichte notwendig war.
Wie viele Völker der Sahara und der Sahelzone haben die Tuareg jahrhundertelang Jagd auf die dunkelhäutigen Völker südlich von ihnen gemacht und sie für sich arbeiten lassen. So bildete sich eine eigene Kaste innerhalb der Tuareg-Gesellschaft, die Iklan, die Sklaven.
Die Iklan wussten bald nichts mehr über ihre Herkunft und nahmen Sprache und Kultur ihrer Herren an. In den meisten Tuareg-Clans gab es keine Heiraten zwischen den hellhäutigen Noblen und den dunkelhäutigen Sklaven. Iklan bedeutete außer Sklave also auch dunkelhäutig, schwarz.
Um eine Tuaregfamilie lebten typischerweise mehrere Sklaven-Familien. Sie hüteten das Vieh, erledigten die Hausarbeit und bestellten dort, wo es sie gab, die Felder und Gärten.
Nicht die Politik der Kolonialmacht Frankreich und auch nicht die der malischen Regierung verpassten der Sklavenhalterei schließlich ein schweren Schlag, sondern die große Dürre von 1972/73, als die Herden der Tuareg in Massen starben. Sie reichten nicht mehr, um die Iklan zu ernähren. Die gingen deshalb in die Städte oder gründeten ihre eigenen Siedlungen.
Noch 1958 konnte man in Timbuktu ohne Probleme Sklaven kaufen. Und, wie ein Reisender in den sechziger Jahren berichtet, war es normal, dass ein Gastgeber einem Besucher eine Sklavin für die Nacht anbot, „weil es kein Fernsehen gab“.
Aber das war nicht das Bild, das Aguissa von seiner Jugend zeichnete. „Der Vater von Abdullatif hat meinen Vater nie als Bella betrachtet, sondern als Freund“, erzählte er jetzt bei dem Interview. Er selbst wurde genau im selben Jahr geboren wie Abdullatif, und nachts hätten Abdullatif und er auf derselben Matte geschlafen, so nah standen sich ihre Familien.
Bis Aguissa fünfundzwanzig Jahre alt war, arbeitete er als Hirte für Abdullatifs Familie. Die hatte damals noch 300 bis 400 Kühe und vielleicht 200 Schafe; und rund zwanzig Bella-Familien um sie herum, die sich um die Herden kümmerten.
Als Aguissa nach Timbuktu zog, hatte der Vater von Abdullatif nichts dagegen. „Ich habe ihm Zucker gekauft und Kleider gegeben“, sagte Aguissa. „Und wenn er nach Timbuktu kam, hat er bei mir gewohnt.“
1971 kam Aguissa zum ersten Mal alleine nach Timbuktu. Zuvor hatte ihn seine Mutter nur ein paar Mal zum Einkaufen dorthin mitgenommen. „Nach einer Weile hat mein Herz an Timbuktu gehangen“, sagte er, „und ich bin hier geblieben. Ich habe Interesse an Geld bekommen, und ich habe mir ein Haus gebaut, mit meinem eigenen Geld und meinen eigenen Händen.“
Erst in Timbuktu besorgte er sich einen Personalausweis. Davor tauchte er in keinem staatlichen Register auf, war er amtlich nicht existent.
Am Anfang kehrte Aguissa noch jedes Wochenende nach Tillamedess zurück, aber bald starben dort wegen der Dürre die Herden. „Ich habe gemerkt, dass es keine Zukunft für mich in Tillamedess gibt“, sagte er.
Wäre er jedoch auch ohne die Dürre aus dem Lager weggegangen? „Das kann ich nicht beantworten. Das weiß nur das Schicksal. Auf jeden Fall liebte ich Tillamedess sehr.“
Alles, was nicht in diese Idylle passte, stritt Aguissa ab. Obwohl er daneben gestanden hatte, wollte Aguissa den Vorfall mit dem jungen Tuareg-Mann in Tillamedess nicht miterlebt haben, der einen Teil der Kühe den Sklaven zuordnete. Er tat so, als könne er sich nicht erinnern. Ich musste ihm den Vorfall zweimal schildern, bis er kleinlaut wurde und resigniert zugab: „Na ja, so ist das.“
Und nun bei dem Interview wollte er auf einmal das Wort Iklan noch nie gehört haben. Ich, der seine
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