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Afrika Quer (German Edition)

Afrika Quer (German Edition)

Titel: Afrika Quer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Boehm
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Eisenbahn es lieber gesehen hätte, dass ich nicht mitfuhr. Inzwischen erkenne ich einen Endzustand, wenn ich ihn sehe. Und das war sicher: Die einst profitabelste Eisenbahnlinie der Welt war im Endzustand angekommen.
    In der Physik betrachtet man Prozesse oft unter dem Aspekt sich wandelnder Energieformen. Von potenzieller Energie, die ein Gegenstand hat, spricht man zum Beispiel, wenn er auf dem Tisch liegt. Lässt man ihn herunterfallen, wandelt sich seine potenzielle Energie in Bewegungsenergie um und am Boden in Wärme. Nach dem Satz von der Erhaltung der Energie bleibt die Summe der Energie eines Systems immer gleich.
    Für die Praxis ist es jedoch entscheidend, dass nicht alle Energieformen gleich wertvoll, gleich brauchbar sind. Wenn ein Gegenstand auf dem Tisch liegt, braucht man keine Arbeit, um ihn fallen zu lassen. Um ihn vom Boden aufzuheben aber schon, und auf die Wärme, die das Fallen dem Gegenstand hinzugefügt hat, kann ich möglicherweise verzichten.
    Die Zwangsläufigkeit der Richtung, in die in Afrika Entwicklungsprozesse und die dazugehörigen Systeme streben, erinnert mich immer an das Fallen eines Gegenstandes vom Tisch. Dass das System den Endzustand findet, ist so sicher wie der Gegenstand den Boden.
    Am Anfang steckt noch eine Menge potenzielle Energie in dem System. Es wurde noch in den sechziger oder frühen siebziger Jahren gekauft, als Afrika noch bessere Zeiten erlebte, oder später eben von den Geberländern. Aber dann beginnt die Entwicklung, das Fallen vom Tisch. Die wertvolle potenzielle Energie wird restlos in die nutzlose Bewegungsenergie und danach in die noch nutzlosere Wärme umgewandelt. Die potenzielle Energie ist nun null, das System im Ruhezustand angekommen. Natürlich hat das auch seine guten Seiten. Vom Boden kann nichts mehr tiefer fallen, und im Endzustand kann das System in Afrika ja auch noch jahrzehntelang benutzt werden.
    Wenn ich in Nairobi also die verwaisten, vollgemüllten Räume im Seitenflügel des in den sechziger Jahren gebauten Rathauses sah, nahm ich sie mit der distanzierten Weisheit des Physikers zur Kenntnis. Ich dachte mir: Was soll’s? Endzustand! Und wenn ich mir die zerkrümelnden Häuser im Kolonialstil oder die Autos in Dschibuti angeguckt habe: Wichtigkeit! Endzustand.
    Überhaupt hielt Afrika für den, der seine Physikhausaufgaben gemacht hat, nur noch wenige Überraschungen bereit. Ich sah den Endzustand überall. Oder das Fallen dorthin. Und genauso ging es mir nun auch in dem Zug, in dem ich saß. Überall war Endzustand.
    Der Zug hatte vier Waggons für Passagiere und einen Viehwaggon unmittelbar hinter der Diesellokomotive. Dort fuhr das Personal und ihre Familien oder irgendwelche anderen Leute, die keine Fahrkarte hatten.
    Ganz am Anfang erinnerte mich unser Zug an eine fahrende Konservenbüchse. Seine Waggons waren von allem gereinigt, was beweglich war. Wo einmal Fenster, Gepäcknetze, Lampen, Lüftungen oder Abdeckungen waren, gähnten nun große Löcher. An vielen Stellen hingen elektrische Kabel heraus. Aus reinen Sicherheitsgründen, versteht sich, war kein Strom drauf.
    Dann, als der Zug fuhr, erinnerte er mich an ein schwankendes Schiff auf hoher See. Ich war später einmal in der Zugführerkabine. Die Diesellokomotive fuhr nicht schneller als dreißig Stundenkilometer. Aber um die Waggons wild herumzubeuteln, reichte es völlig aus.
    Und noch später dann erinnerte mich unser Zug an eine Achterbahn. Wenn wir eine Brücke überfuhren, die ein tiefes Tal überspannte, kreischten Frédéric und seine Freundin wie auf einer dieser Höllenmaschinen auf dem Volksfest, bevor sie die steilen Abfahrten in die Tiefe tauchen. Ich fand das übertrieben. Die Geschwindigkeit einer Achterbahn war einfach ein bisschen anders als die dieser Bahn.
    Aber die beiden scheinen mehr gewusst zu haben als ich. In Addis Abeba habe ich erfahren, dass im Jahr 2000 auf dieser Strecke dreiundvierzig Züge entgleist sind. Das heißt, fast jede Woche einer. Wie gesagt: Endzustand eben!
    Es gab in dem Zug keinen Restaurantwagen und auch kein Bett in einem Schlafwagen. Ich war jetzt viel schlauer. Jetzt wusste ich auch, warum der Schalterbeamte gelacht hat, als ich eine Fahrkarte für die 1. Klasse kaufen wollte.
    Und Frédéric hat gleich am Anfang das Rätsel aufgeklärt, warum unsere Waggons keine Fensterscheiben hatten. Als er meine Tasche unter unseren Sitz stellte und so eine freie Fläche im Gang schuf, wunderte ich mich.
    „Na, der Zug wird oft mit

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