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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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haben sich kleine Schweißtropfen gebildet, die das Neonlicht einfangen und funkeln. Aus dem tragbaren CD-Spieler auf dem Schreibtisch ertönt eine Kantate von Alessandro Scarlatti, gesungen von Brian Asawa. Man könnte meinen, ihr getragenes Tempo widerspreche den heftigen Bewegungen seines Körpers, aber er bringt seine Bewegungen subtil mit dem Fluss der Musik in Einklang. Es scheint eine Gewohnheit von ihm zu sein, nach seiner nächtlichen Arbeit noch ein einsames Training auf dem Büroboden zu absolvieren und dabei alte Musik zu hören, ehe er nach Hause fährt. Er bewegt sich routiniert und voller Selbstvertrauen.
    Nachdem er eine vorgegebene Anzahl von Dehnübungen absolviert hat, rollt er die Matte zusammen und legt sie in seinen Spind. Aus dem Fach nimmt er ein weißes Gesichtstuch und einen Waschbeutel aus Kunststoff und geht damit in den Waschraum. Noch immer mit freiem Oberkörper wäscht er sich das Gesicht mit Seife, trocknet es mit dem Handtuch ab und reibt sich anschließend den Schweiß vom Körper. jeden seiner Handgriffe führt er mit Sorgfalt aus. Da er die Tür zum Waschraum offengelassen hat, kann er auch hier die Scarlatti-Arie hören. Hin und wieder summt er eine Passage des Musikstücks aus dem 17. Jahrhundert mit. Er nimmt eine kleine Dose Deodorant aus seinem Waschbeutel und sprüht sich ein wenig davon unter die Achseln. Er bringt sein Gesicht an sie heran, um ihren Geruch zu prüfen. Nun öffnet und schließt er mehrmals die rechte Hand und probiert verschiedene Bewegungen aus. Er untersucht die Schwellung am Handrücken. Sie ist nicht sehr auffällig, schmerzt jedoch offenbar noch recht stark. Er nimmt eine kleine Bürste aus dem Waschbeutel und fährt sich durch das Haar. Sein Haaransatz ist ein wenig zurückgegangen, aber da er eine wohlgeformte Stirn hat, entsteht nicht der Eindruck von Verfall. Er setzt die Brille auf, knöpft das Hemd zu und bindet sich die Krawatte. Hellgraues Hemd und dunkelblaue Krawatte mit einem feinen Paisley-Muster. Im Spiegel richtet er den Hemdkragen und den Knoten seiner Krawatte.
    Shirokawa inspiziert im Spiegel des Waschraums sein Gesicht. Ohne einen Muskel zu bewegen, fixiert er sich lange und mit strengem Blick. Die Hände hat er auf das Waschbecken gelegt. Er hält den Atem an und zuckt mit keiner Wimper. Innerlich hegt er die Hoffnung, es könnte dabei etwas Anderes zum Vorschein kommen. Er versucht, alle seine Sinneswahrnehmungen zu objektivieren, sein Bewusstsein einzuebnen, die Logik einzufrieren und den Fluss der Zeit anzuhalten, und sei es auch nur für einen Moment. Er versucht, die eigene Existenz so weit wie möglich mit dem Hintergrund verschmelzen zu lassen. So zu tun, als ob alles ein neutrales Stillleben wäre.
    Doch auch wenn er alles Persönliche tilgt, kommt das Andere nicht zum Vorschein. Seine Gestalt im Spiegel bleibt nur seine reale Gestalt. Eine gewöhnliche Reflektion. Resigniert stößt Shirokawa einen tiefen Seufzer aus, füllt seine Lungen mit frischer Luft und verändert seine Körperhaltung. Er lockert seine Muskeln und lässt mehrmals ausgiebig den Hals kreisen. Anschließend packt er die Sachen, die er auf das Waschbecken gelegt hat, wieder in seinen Beutel. Das Papiertuch, mit dem er sich abgetrocknet hat, knüllt er zusammen und wirft es in den Mülleimer. Beim Hinausgehen löscht er das Licht im Waschraum. Die Tür fällt zu.
    Nachdem Shirokawa gegangen ist, verweilt unser Blick noch im Waschraum, bleibt, als Kamera, weiter auf den dunklen Spiegel gerichtet, der noch immer Shirokawas Gestalt wiedergibt. Er - oder besser gesagt, sein Abbild - schaut aus dem Spiegel zu uns herüber. Sein Ausdruck ist unverändert, er bewegt sich nicht. Er starrt einfach geradeaus in unsere Richtung. Doch kurz darauf lösen sich seine Muskeln, er stößt wie resigniert einen tiefen Seufzer aus und dreht den Kopf. Er legt sich die Hände auf das Gesicht und streicht sich mehrmals über die Wangen, wie um sich zu vergewissern, dass er dort etwas spüren kann.
    Nachdenklich sitzt Shirokawa an seinem Schreibtisch und dreht dabei einen silbernen Bleistift mit einem Aufdruck zwischen den Fingern. Es ist der Bleistift aus dem Zimmer, in dem Eri Asai aufgewacht ist. VERITECH steht darauf. Seine Spitze ist stumpf. Nachdem er eine Weile mit dem Bleistift gespielt hat, legt er ihn in die Schale zu den sechs anderen Bleistiften der gleichen Marke. Die anderen sind so scharf gespitzt, wie es nur möglich ist.
    Shirokawa macht sich bereit zu gehen. Er

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