Agent 6
neuen Regierung, der eine Tochter Mitte zwanzig hatte. Sie war akademisch gebildet, sprach fließend Russisch und arbeitete für den Minister als Dolmetscherin.
Die Adresse führte sie zu einem Haus in traditioneller Bauweise, mit Lehmwänden und dekorativen Verzierungen. Es war bestimmt mehrere hundert Jahre alt. Nachdem viele solcher Häuser zerstört wurden, prägte diese Art von Handwerkskunst nicht mehr ganze Stadtviertel, sondern war nur noch an wenigen Stellen erhalten. Das Haus in satten Rot- und Brauntönen stand an einer schmalen, alten Straße. Leo fand es passend, dass sich die Liebe in eine der wenigen architektonisch schönen Gegenden geflüchtet hatte, die noch existierten. Früher war dieses Viertel verhältnismäßig wohlhabend gewesen, hier hatte die Oberschicht gelebt, aber jetzt fiel es schwer, irgendeinen Teil der Stadt als privilegiert zu betrachten. Nirgends war es sicher, keine Straße und kein Haus war vor Gewaltausbrüchen gefeit.
Leo klopfte nicht an die Tür, sondern knackte das schwere Eisenschloss. Es war ein altes Modell. Die schmückenden Gravuren fanden ihr Pendant in der handwerklich ausgefeilten Mechanik, durch die das Schloss schwerer zu öffnen war als viele moderne Varianten. Nara wurde nervös.
– Was ist, wenn ich mich irre? Der Mann ist schließlich Minister.
Leo nickte.
– Dann bekommen wir eine Menge Ärger. Aber wenn wir versuchen, uns eine Genehmigung zu besorgen, beleidigen wir den Minister und geben dem Verdächtigen genug Zeit, um zu fliehen. Also ist der Trick …
Leo legte einen Finger an die Lippen und bedeutete Nara, sie solle still sein. Wenn sie sich wirklich getäuscht hatten, würden sie sich aus dem Haus schleichen, ohne eine Spur von ihrer Durchsuchung zu hinterlassen. Als Leo endlich das schwere Schloss klicken hörte, drückte er die Tür auf.
Auch wenn sich ihre Annahmen als richtig erweisen sollten, glaubte Leo nicht, dass der Minister persönlich in die Sache verwickelt war oder auch nur wusste, in welcher Lage seine Tochter steckte. Damit hätte er ein zu großes Risiko auf sich genommen, und seinen Akten nach zu urteilen war er als Politiker zu gerissen, um nicht zu begreifen, welche Konsequenzen so etwas nach sich ziehen würde. Nicht von Seiten der Sowjets, aber von seinen afghanischen Kollegen. Mit den Sowjets zusammenzuarbeiten war eine Sache, aber es war etwas ganz anderes, seine Tochter einen russischen Soldaten heiraten zu lassen. Leo bezweifelte, dass die beiden schon aus der Stadt geflohen waren, obwohl er es insgeheim hoffte. Er sah keinen Loyalitätskonflikt, sondern stand ganz klar auf Seiten des Paares. Höchstwahrscheinlich hielt die Tochter, die Ara hieß, ihren Geliebten versteckt und plante mit ihm ihren nächsten Schritt, weil beide glaubten, sie könnten die ersten Suchaktionen abwarten und fliehen, wenn sich die Aufmerksamkeit gelegt hatte.
Das Erdgeschoss des ungewöhnlich großen Hauses lag verlassen da. Wie Einbrecher schlichen Leo und Nara vorsichtig die Treppe hinauf. Nara war so jung und unerfahren, dass die Situation beinahe wie gespielt wirkte, als befänden sie sich nur bei einer Übung und nicht in einem richtigen Einsatz. Dann erreichten sie eine geschlossene Tür. Leo öffnete sie. Dahinter saß Ara an einem Schreibtisch, vor sich ausgebreitete Papiere. Obwohl sie der Tür den Rücken zuwandte, hörte sie Leo und Nara hereinkommen. Sie stand auf und drehte sich erschrocken und ängstlich um. Damit war die Durchsuchung offiziell, sie konnten nicht mehr zurück. Nach einem kurzen Moment, um sich wieder zu fangen, fragte Ara auf Russisch:
– Wer sind Sie? Was wollen Sie in meinem Haus?
Sie war bemerkenswert schön und besaß eine Haltung und Würde, die für ein privilegiertes Leben und Bildung sprachen. Sie war ehrlich erschrocken. Ihre Empörung wirkte dagegen gezwungen, ihre Stimme zitterte nicht vor Wut, sondern vor Nervosität, was deutlich anders klang. Der Deserteur befand sich in diesem Haus, davon war Leo überzeugt.
Er blickte sich im Zimmer um, ohne ein naheliegendes Versteck zu entdecken. Dann antwortete er Ara auf Dari:
– Ich heiße Leo Demidow. Ich bin Sonderberater der Geheimpolizei. Wo ist er?
– Wer?
– Hören Sie gut zu, Ara: Die Sache kann noch ein gutes Ende finden. Fjodor Masurow könnte auf seinen Posten zurückkehren und sagen, er wäre betrunken gewesen, er hätte Heimweh gehabt oder gedacht, er hätte heute keinen Dienst. Welche Ausrede er benutzt, ist egal. Irgendeine
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