Agent 6
Pflichtübung. Den Ton konnte er einfach nicht einordnen. In einer heißen Sommernacht hatte er einen einseitigen Brief seiner jüngeren Tochter Elena, verfasst in ihrer säuberlichen, kleinen Handschrift, mehrere Hundert Mal gelesen, und er hätte ihn weitere Hunderte von Malen gelesen, wenn er durch das Opium nicht eingeschlafen wäre. Danach hatte er sich angewöhnt, einen neuen Brief nur drei Mal zu lesen und ihn dann zu verbrennen. Mittlerweile hatte er seit Monaten keinen neuen Brief bekommen. Vielleicht hörte er nichts, weil die Post sehr unzuverlässig zustellte, manchmal brachte sie drei oder vier Briefe auf einmal, aber wahrscheinlich lag es daran, dass er ihren letzten Brief nicht beantwortet hatte. Es fiel ihm immer schwerer, seine Gedanken zu ordnen. Er fing hundert Mal an und hasste alles, was er schrieb.
Als Leo auf dem groben Teppichboden aus Synthetikfaser auf und ab lief, der in diesem Land völlig fehl am Platze war, weil er sich in wenigen Tagen mit Staub und Dreck zusetzte, merkte er, dass er dringend seine Pfeife rauchen musste. Während er eine Portion Opium vorbereitete, hörte er leise Musik. Sie kam aus der Wohnung nebenan, von seiner neuen Nachbarin Nara Mir.
Nach der Geschichte mit Dost Mohammad hatte Leo die einzige Überlebende aus der Gruppe seiner Schüler zum Haus ihrer Familie begleitet, damit sie ihre Sachen holen konnte. Das Wichtigste, ihre Bücher über den Marxismus, hatte sie draußen versteckt, in der verfehlten Hoffnung, ihre Eltern würden sie nicht finden. Zwei sowjetische Soldaten hatten sie zu ihrem Schutz begleitet. Als sie fertig waren und gehen wollten, hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die gegen das Auto drängte. Die Soldaten hatten in die Luft geschossen, um die Menge zu zerstreuen, während Leo Nara in das Auto bugsierte. Als sie durch die Menge fuhren, hatte jemand einen kleinen Plastikbeutel mit Säure auf ihre Windschutzscheibe geworfen. Der Beutel war geplatzt, die Säure war ausgelaufen und hatte ein Stück der Scheibe qualmend zum Schmelzen gebracht. Leo hatte den Soldaten befohlen, im Wagen zu bleiben und weiterzufahren, weil er spürte, dass diese Provokation sie in einen Hinterhalt locken sollte. Nara war ruhig geblieben. Die Gemeinschaft, der sie früher angehört hatte, verachtete sie. Als Reaktion auf ihre Verbannung wechselte sie nun ins Russische.
– Ich spreche nicht gut Russisch, aber ich würde es gern besser lernen. Von jetzt an müssen wir mehr Russisch reden.
Für die restliche Autofahrt, bei der die Windschutzscheibe blubberte und zischte, hatte sie sich in ihren russischen Sprachführer vertieft, als wäre nichts passiert.
Die Musik machte Leo neugierig. Er brachte so viel Disziplin auf, das Rauchen zu verschieben, und zog seine Flipflops an. Er ging über den Flur und klopfte an ihre Tür. Nara öffnete, nachdem sie mehrere schwere Schlösser entriegelt hatte. Sie trug ihre Uniform, obwohl sie nicht im Dienst war. Die eigentlich Sowjets vorbehaltene Unterbringung hatte man Nara vor allem gewährt, weil sie das Scheitern der aufständischen Attentäter verkörperte, nicht als Geste, man würde die Afghanen als gleichberechtigt betrachten. Nara war ein wichtiges Symbol, ein Talisman der Besatzung, und man wollte sie beschützen. Jenseits des Stacheldrahtzauns und der bewaffneten Patrouillen hätte sie höchstens ein paar Stunden überlebt.
Im Wohnzimmer stand ein klobiger Kassettenspieler. Nara fragte auf Russisch:
– Ist die Musik zu … groß?
Weil ihr das richtige Wort nicht einfiel, fuhr sie auf Dari fort:
– Ist sie zu laut?
Leo schüttelte den Kopf.
– Nein.
Die Musik war eine Raubkopie von westlicher Popmusik, wie man sie auf den Märkten ausgebreitet auf Schals fand. Solche Kassetten wurden mit fotokopierten Albumcovern aus anderen Ländern importiert und mit einem kräftigen Preisaufschlag an die Besatzer verkauft. Leo kannte weder die Musik noch den Sänger. Der Text wurde auf Englisch gesungen, mit einem amerikanischen Akzent. Der Mann hatte eine wunderbare Stimme. Nara fragte ernsthaft besorgt:
– Ist es schlimm, wenn eine Kommunistin Musik von einem amerikanischen Sänger kauft?
Leo schüttelte den Kopf.
– Ich glaube nicht, dass sich jemand daran stört.
– Der Hauptmann hat mir Geld gegeben. Ich hatte noch nie eigenes Geld. Ich habe es ausgegeben. Alles an einem Nachmittag. Ich habe so lange Sachen gekauft, die ich nicht brauche, bis das Geld weg war. War das falsch?
– Nein.
– Der
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