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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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erweisen:
    Sie müssen hier etwas sehen.
    Sie hatte ihn zu einem verletzten Mädchen gerufen, obwohl sie genau gewusst hatte, was er tun würde. Er hätte das Mädchen genauso erschossen wie den Jungen. Mit Unwissenheit konnte sie sich nicht herausreden. Sie war bereit gewesen, die Hinrichtung eines siebenjährigen Mädchens mit anzusehen.
    Sie hatte sich verändert, und nichts konnte das rückgängig machen. Selbst, als ihre Familie ihren Tod geplant und sie den Hass in den Augen ihres Vaters gesehen hatte, hatte sie nie an ihrem Charakter gezweifelt. Sie war ein guter Mensch. Man hatte ihr unrecht getan und sie missverstanden. Sie hatte gute Absichten. Sie war nicht wie die Männer, die sie überfallen hatten. Sie war nicht wie ihr Vater, der ihren Tod herbeigewünscht hatte, oder wie ihre Mutter, die stumm dabeistand. Nicht Wut und Zorn trieben Nara an, sondern Hoffnung und Idealismus. Allerdings bedeutete das auch, allein und ungeliebt zu sein. Aber besser, allein dazustehen, als gegen ihre Überzeugungen zu handeln und auf die Anerkennung von Menschen aus zu sein, vor denen sie keine Achtung hatte. Eine Liebe, die auf Täuschung basierte, war nichts wert. Solange sie denken konnte, hatte sie immer das Richtige getan, egal wie schwer sie sich das Leben damit machte. Jetzt stimmte das nicht mehr.
    Sie war ein Feigling. Nun lautete die Frage, ob ihre Wertvorstellungen überhaupt mehr waren als persönlicher Ehrgeiz, umgemünzt in eine Ideologie. So wenig sie sich der Entscheidung des Hauptmanns widersetzen konnte, so wenig hatte sie sich auf Leos Seite schlagen können, sie hatte am Rand gestanden, ohne Position zu beziehen. In den Augen des kommunistischen Staates und in den Augen des afghanischen Volkes war sie eine Verräterin. Und selbst Leo hielt nicht viel von ihr. War sie etwa zur Schule gegangen, damit sie sich Rechtfertigungen für den Mord an einem kleinen Mädchen zurechtlegen konnte? Hatte sie dafür so viele Bücher gelesen? Sie schämte sich schrecklich. Dieses Gefühl war beinahe wie Trauer, als wäre ihr eigenes Selbst gestorben. Bei der Vorstellung, die kleine Zabi würde aufwachen und nach Frühstück fragen, ohne zu ahnen, dass Nara fast für ihre Hinrichtung gesorgt hätte, konnte sie kaum atmen. Sie saß da und schnappte nach Luft.
    Nara stand auf, verließ die Höhle und ging den Weg hinunter. Sie wurden nicht bewacht, weil jeder Fluchtversuch sinnlos war: Selbst mit mehreren Stunden Vorsprung hätten sie nirgendwo ein Versteck erreichen können. Man hätte sie verfolgt und getötet. Nur wenige Schritte weiter verjüngte sich der schmale Bergpfad und führte an einem Abhang vorbei, an dem es etwa dreißig Meter senkrecht in die Tiefe ging. An der Kante blickte Nara nach unten. Ohne jedes Selbstmitleid akzeptierte sie, dass ihr keine andere Möglichkeit blieb. Sie wusste nicht mehr, wie sie weiterleben sollte. Sie kannte ihren Platz in der Welt nicht mehr. Weder zu dem kommunistischen Regime noch zu dem kleinen Mädchen konnte sie zurückkehren. Sie schloss die Augen, bereit, den letzten Schritt zu gehen und sich in den Tod zu stürzen.
    – Was machst du da?
    Erschrocken drehte Nara sich um. Zabi stand ganz in der Nähe. Mit unsicherer Stimme antwortete Nara:
    – Ich dachte, du schläfst noch.
    Zabi hob die Arme, um ihre Brandwunden zu zeigen.
    – Meine Haut tut weh.
    Die helle Salbe, mit der ihre Brandwunden behandelt wurden, hatte sich abgerieben. Der feine Schorf und die verletzte Haut lagen bloß. Dazwischen war rohes, rotes Fleisch zu sehen. Nara versuchte, sie zurückzuscheuchen.
    – Geh wieder in die Höhle. Bitte, geh rein.
    – Aber ich kann nicht schlafen.
    – Geh in die Höhle.
    Als Nara die Stimme erhob, drehte Zabi sich langsam weg.
    Allein blickte Nara wieder den Abhang hinunter. Statt an den Tod zu denken, überlegte sie, wie sie eine neue Salbe herstellen konnte. Ohne Salbe würde Zabi den Schorf aufkratzen, und die Wunden würden sich entzünden. Nara wusste ein wenig über die Heilkräfte von Bergpflanzen. Ihr Großvater hatte es ihr beigebracht, als sie ein kleines Mädchen war. Sie hatte immer gern von ihm gelernt. Er kannte jede Pflanze in den afghanischen Bergen, weil er sich in seiner Zeit als Schmuggler einige Male von dem ernähren musste, was er in der Natur fand. Ihr fiel ein, dass man aus Wacholderbeeren eine schmerzlindernde Paste herstellen konnte, besonders in einer Mischung mit natürlichen Ölen, etwa aus Nüssen oder Pflanzenkernen.
    Sie wandte sich

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