Agent 6
von dem Abgrund ab und lief der winzigen Zabi hinterher. Nara rief ihr nach:
– Warte!
Zabi blieb stehen. Nara bückte sich und musterte ihre Haut.
– Du darfst auf keinen Fall kratzen.
Zabi wimmerte:
– Aber es juckt.
Das Mädchen so leidend zu hören brachte Nara zum Weinen, sie konnte nicht aufhören.
– Ich mache dir eine neue Salbe. Dann juckt es nicht mehr, das verspreche ich.
Naras Tränen überraschten Zabi so, dass ihre eigenen versiegten.
– Warum weinst du?
Nara konnte ihr nicht antworten. Zabi fragte:
– Tut deine Haut auch weh?
Nara wischte sich die Tränen fort.
Am selben Tag
Nachdem Leo zum ersten Mal seit drei Tagen geschlafen hatte, setzte er sich ungelenk auf. Seine Muskeln taten weh, und er hatte immer noch schmerzhafte Krämpfe. Vor Hunger, Durst und Erschöpfung zitterten ihm die Hände. Seine Lippen waren aufgerissen, er hatte Dreck unter den Nägeln und zerzaustes Haar. Ohne einen Spiegel begann er, sich ein wenig zu säubern. Mit einem abgesplitterten Streichholz kratzte er sich den Dreck unter den Nägeln hervor. Bei einem nach dem anderen schob sich eine dicke Schmutzschicht auf das Streichholz, die er auf dem Boden abwischte. Mit einer Tasse voll kaltem Wasser versuchte er, sich das Gesicht zu waschen, dann zog er die getrockneten Hautfetzen von den Lippen und strich sich das Haar glatt.
Die innere Stimme, die ihm befahl, Opium aufzutreiben, war hörbar, aber als ständiges Quengeln, nicht als ohrenbetäubende Forderung, sie war leiser und nicht mehr die einzige Stimme, die er hörte, eher ein undeutliches Flüstern. Er fühlte sich stark genug, um sie zu ignorieren. Eine andere Stimme war wiedergekehrt: seine eigene, und sie verlangte, dass er nach einem Ausweg suchte, dass er flüchtete, nicht in die Welt des Opiums, sondern aus der Gefangenschaft. Zuerst musste er sich einen Überblick verschaffen: Er wusste nicht, wie viele Soldaten sich an diesem Stützpunkt aufhielten. Er wusste nicht einmal, wo genau sie waren.
Als sich seine Gedanken wieder um eine mögliche Flucht drehten, stellte sich die Frage, wohin und zu welchem Zweck. Nachdem sein Leben so viele Jahre lang ohne Richtung verlaufen war, konnte er sich kaum daran erinnern, dass ihn früher eigene Träume und Ziele angetrieben hatten. Er konnte sich nicht mehr in einer Wolke aus Opiumrauch durch die Tage und Wochen treiben lassen. Es galt, Entscheidungen zu treffen. Er musste jetzt für eine neue Familie sorgen. Ihm fiel der sowjetische Deserteur mit seinem Plan ein, die Grenze nach Pakistan zu überqueren und bei den Amerikanern Asyl zu beantragen. Er hatte sich von ihnen Schutz erhofft im Austausch gegen die Informationen, die er über die Besatzung Afghanistans besaß. Damit würde er zwei Dinge erreichen: Sie würden am Leben bleiben und hätten eine Möglichkeit, nach New York zu kommen. Nara und Zabi wären in Sicherheit, aber wenn er überlief, würde er seine Töchter in Moskau in große Gefahr bringen. Sein Verstand war vom Opiat träge geworden, er war solche Dilemmas nicht mehr gewohnt. Als Leo erahnte, was für ein langer Weg vor ihm lag, wurde er hungrig, obwohl er noch gestern geschworen hätte, dass er dieses Gefühl nie wieder spüren würde.
Nara und Zabi saßen am Höhleneingang. Er gesellte sich zu ihnen und musterte dabei unauffällig die Umgebung und die Anzahl der Soldaten, die für diesen Stützpunkt zuständig waren. Die Mädchen aßen shlombeh , Joghurt mit Milch, dazu gewürztes Fladenbrot. Obwohl er sich besser fühlte, verzichtete er auf den Joghurt und riss nur Stücke von dem warmen Brot ab. Er aß langsam und kaute sorgfältig. Der feste Teig war kräftig mit zerstoßenen Kardamomkapseln gewürzt. Als er ein weiteres Stück abriss, färbte das Öl im Brot seine Fingerspitzen gelb. Das kleine Mädchen sah ihm beim Essen zu und fragte:
– Geht es dir besser?
Leo kaute zu Ende, bevor er antwortete:
– Viel besser.
– Was hattest du denn?
– Ich war krank.
Nara sagte zu Zabi:
– Lass ihn essen.
Aber Zabi fragte weiter:
– Weshalb warst du krank?
– Manchmal wird man krank, weil man aufgegeben hat. Das ist dann keine richtige Krankheit. Man sieht keinen Sinn und kein Ziel mehr vor sich. Verzweiflung kann einen Menschen krank machen.
Zabi hörte so konzentriert zu, als würde er die Weisheiten eines alten Professors von sich geben. Sie bemerkte:
– Für einen Besatzer sprichst du meine Sprache sehr gut.
Zabi war offen, geradeheraus in ihren
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