Agent 6
passendes Ende ansahen.
Bei seinen Besuchen blieb Leo nicht immer draußen. Es gab Führungen durch den Hauptsitz der Vereinten Nationen, und Leo hatte an einigen teilgenommen und aufmerksam zugehört, obwohl er von den englischen Erklärungen nur wenig verstand. Er hatte den Saal besichtigt, in dem Raisas Konzert stattgefunden hatte, nicht weil es seinen Ermittlungen half, sondern weil er dort gerne an ihren Erfolg dachte – als Kriegsflüchtling, der Stalins Säuberungsaktionen überlebt hatte, hatte sie an einem solchen Ort einen Auftritt geleitet, und dazu hatten die höchsten Diplomaten sie mit stehenden Ovationen gefeiert. Seine ältere Tochter Soja hatte ihm erzählt, dass das Konzert alle Erwartungen übertroffen hatte. Raisas hatte alles perfekt vorbereitet. Doch während sie mit Musik und Liedern den Menschen Hoffnung machen wollte, schmiedeten andere Pläne für einen Mord.
Zwanzig Minuten waren verstrichen, in denen er sich nicht bewegt hatte, mit den Händen hinter dem Rücken war er an einer Stelle stehen geblieben. Die Wachleute der Vereinten Nationen beäugten ihn misstrauisch. Taxifahrer gingen vom Gas, für den Fall, dass er mitgenommen werden wollte. Aber er musste nirgendwo hin. Vor ihm lag keine Reise mehr. Jetzt bestand seine Aufgabe nur noch in Nachforschungen. Als er zu den Wolkenkratzern aufblickte, stellte er sie sich als Hüter der Geheimnisse dieser Stadt vor, als stumme Riesen, in denen Antworten in Stahl, Beton und Glas verschlossen blieben. Er legte keine Blumen nieder. Zum Gedenken wollte er nichts anderes tun, als den Mörder seiner Frau zu stellen.
Aus Sicherheitsgründen hatte man ihm verboten hierherzukommen. Die Sowjets würden ihn leicht finden, falls sie vermuten sollten, dass er übergelaufen war. Diesen Platz würden sie zuerst überwachen. Natürlich ignorierte er die Anweisungen. Als er auf die U-Bahn-Haltestelle zuging, war ihm klar, dass ihm jemand folgte. Das wusste er, ohne stehen zu bleiben und sich umzudrehen, ohne den Agenten zu sehen, der auf ihn angesetzt war. Seine Instinkte hatten sich über viele Jahre hinweg geschärft. Er nahm es der amerikanischen Geheimpolizei auch nicht übel, dass sie ihn beobachten wollte. Normalerweise ließ er zu, dass sie ihm folgten, damit sie beruhigt waren. Aber nicht heute – er hatte etwas zu erledigen, und dabei konnte er die Gesellschaft des FBI nicht brauchen.
Harlem
Bradhurst
West 145th Street
Als Leo das Wohnhaus passierte, in dem Jesse Austin früher gelebt hatte, widerstand er der Versuchung hineinzugehen. Er suchte diesen Ort immer wieder auf, als glaubte er, dort noch eine Spur der Vergangenheit finden zu können, einen Nachhall des Tages, an dem die junge Elena hergekommen war, voller Träume von Gleichheit und Gerechtigkeit. Bisher war seine Hartnäckigkeit nicht belohnt worden, mit seinen Fragen hatte man ihn jedes Mal abgewiesen, mal feindselig, mal völlig verständnislos. Es gab in diesem Haus niemanden, den er nicht angesprochen hätte, bei den Bewohnern galt er schon als Sonderling. Einmal hatte er im obersten Stock an die Tür von Jesse Austins früherer Wohnung geklopft und die derzeitigen Bewohner, ein junges Pärchen, in gebrochenem Englisch gefragt, ob sie etwas über Austin wussten. Sie hatten den Kopf geschüttelt, offenbar glaubten sie, er würde jemanden suchen, der jetzt dort wohnte. Weil er nicht erklären konnte, warum er wirklich dort war, hatte er ihnen die Zeitungsartikel über den Mord gezeigt. Ihrer Verwirrung nach wussten sie nichts von dem Ereignis, hatten keine Ahnung, wer Jesse Austin war, und schon gar nicht, warum dieser seltsame Ausländer sechzehn Jahre nach dem Mord nach ihm fragte. Sie hatten zwar höflicher als die meisten anderen reagiert, aber sie hatten die Tür zugemacht und abgeschlossen und damit eindeutig gezeigt, dass sie keine weiteren Nachfragen wünschten.
Leo ließ das Wohnhaus hinter sich und ging weiter die Straße hinunter. Er umklammerte die Artikel, die er beinahe jedem zeigte, vor allem den Leuten, die alt genug wirkten, um zur Zeit der Morde erwachsen gewesen zu sein. In der Sowjetunion und in Afghanistan hatte er immer geglaubt, es wäre die größte Hürde, nach New York zu gelangen. Er hatte sich geirrt, er hatte unterschätzt, wie schwierig es sein würde, einen sechzehn Jahre alten Fall zu lösen, an den niemand zurückdenken wollte.
Auf der anderen Straßenseite lag ein Café, das immer gut besucht war, eine Art Treffpunkt des Viertels, vor allem für
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