Agent 6
einstieg. Ihre dezenten Flirts ließen ihn an seine Begegnung mit Raisa in der Moskauer Metro zurückdenken. Die Erinnerung stimmte ihn nicht traurig. Er fragte sich nur, ob die Fremden auseinandergehen und sich nie wiedersehen oder ob manche auch mehr aus dieser Zufallsbegegnung machen würden.
Als Leo in Brighton Beach ausstieg, kam gerade die Sonne hervor, und er knöpfte seinen Mantel auf. Obwohl der Herbst dem Ende zuging, war ihm warm. Staunend sah er sich um, er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass diese fremde, neue Welt sein Zuhause war. Die Vorstellung erschien ihm immer noch absurd. Vielleicht hatte er wegen seiner Töchter das Gefühl, dass er sich hier nie wirklich heimisch fühlen würde. Anfangs war er mit Nara und Zabi wochenlang von einer vorübergehenden Unterkunft in New Jersey zur anderen gezogen – eine unruhige, konfuse Zeit, die Leo trotzdem weniger seltsam vorkam, als eine feste Anschrift zu erhalten. Er hatte auf New York bestanden und seine wahren Absichten verschleiert, indem er betonte, die Stadt würde mehrere Vorteile bieten. Weil dort zahlreiche sowjetische Immigranten lebten, würden Leos fehlende Englischkenntnisse kein Problem darstellen, außerdem würde er als Fremder weniger auffallen als in einer Kleinstadt. Er lebte unter einem neuen Namen, ohne groß beachtet zu werden, und wenn doch jemand neugieriger wurde, erzählte er, er sei in seiner Heimat verfolgt worden.
Zabi und Nara wohnten gleich nebenan, ebenfalls mit neuen Namen und fiktiven Lebensgeschichten. Sie gaben vor, sie würden aus Pakistan kommen, nicht aus Afghanistan, damit sie schwerer aufzuspüren waren, falls jemand nach ihnen suchen sollte. Sie hatten sich gewünscht, dass Leo bei ihnen wohnte, aber das hätte ihre falsche Identität unglaubwürdig gemacht. Mit dieser Regelung waren sie nur benachbarte Immigranten, die sich angefreundet hatten. Nara war mittlerweile offiziell Zabis Mutter. Sie besaß Papiere, die das bewiesen, und manchmal ertappte Leo sie dabei, wie sie die Unterlagen studierte, als könnte sie die Worte nicht glauben. Das Mädchen, das sie töten lassen wollte, war jetzt vor dem Gesetz ihr Kind. Diesen Widerspruch würde sie jeden Tag mit sich tragen, und ausgerechnet das machte sie zu einer hingebungsvollen Mutter. Weil sie für eine siebenjährige Tochter sehr jung war, begegnete sie Fragen von Außenstehenden zu dem Thema mit strengem Stillschweigen und der Andeutung, eine genaue Erklärung wäre zu bedrückend – was immerhin nicht ganz gelogen war.
Nun wohnte Leo also in Brighton Beach, in der Sixth Street, in einem Apartment im zweiten Stock. Sie hatten nichts mit Blick auf das Meer gefunden – überhaupt war die Aussicht nicht besonders –, dafür war die Wohnung gemütlich und besaß eine Klimaanlage, einen Kühlschrank und einen Fernseher. Anders als in Kabul hatte er nicht die Zimmertüren ausgehängt. Seine unerträgliche Ruhelosigkeit war verschwunden. Auch Opium brauchte er nicht mehr: Er war wieder ein Ermittler.
Als Leo die Wohnungstür aufschloss und das Wohnzimmer betrat, spürte er, dass sich noch jemand im Zimmer befand. Falls es ein sowjetischer Agent war, würde Leo sterben, bevor er auch nur das Licht eingeschaltet hatte. Mit diesem Gedanken streckte er die Hand nach dem Schalter aus.
Am selben Tag
Marcus Greene, tadellos gekleidet wie immer, holte eine Zigarette hervor und setzte sich, als wäre er bei sich zu Hause. Er sagte:
– Sie wirken nervös.
Leo antwortete nicht. Ihm gefiel nicht, mit welcher beiläufigen Missachtung sie in seine Wohnung eindrangen oder sein Telefon verwanzten und dass sie seine Sachen durchsuchten, wenn er nicht zu Hause war. Davon wusste er, weil sie manche Dinge nicht an die richtige Stelle zurücklegten. Aber er machte sich nichts vor: Er gehörte den Amerikanern, als eine Art geistiges Eigentum, und sie konnten tun und lassen, was sie wollten. Es wirkte beinahe komisch, dass Greene fragte:
– Darf ich rauchen?
Leo nickte, dann zog er seinen Mantel aus und hängte ihn in den Flur. Zurück im Wohnzimmer blieb er vor Greene stehen.
– Warum sind Sie nicht in Pakistan?
– Ich habe Urlaub und besuche meine Familie.
Greene zog mit einer solch liebevollen Hingabe an seiner Zigarette, wie es nur Süchtige konnten. Leo nahm ihm gegenüber Platz, beugte sich vor und legte die Hände auf die Knie. Ohne jedes Selbstmitleid bemerkte Greene:
– Ich war kein guter Vater. Meine Fehler tun mir auch leid, irgendwie. Aber ich
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