Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
habe mir keine große Mühe gegeben, um sie abzustellen, also ist mein Bedauern vielleicht nicht allzu viel wert, zumindest nicht in den Augen meiner Frau und meiner Söhne. Das erzähle ich Ihnen, weil ich auch deswegen hier bin. Ich weiß, wie wichtig Ihnen Ihre Familie ist, nicht nur die Familie, die Sie nach New York gebracht haben, sondern auch Ihre Familie in der Sowjetunion.
    Leo fragte mit erstickter Stimme:
    – Was ist passiert?
    – Die Sowjets haben den Verdacht, dass Sie noch leben. Wir haben geglaubt, durch den Tod des Hauptmanns gäbe es dafür keine Bestätigung. Vielleicht stimmt das auch. Jedenfalls sondieren sie die Lage. Als ich in Peschawar war, haben sie dafür gesorgt, dass wir bestimmte Informationen über Ihre Töchter Soja und Elena bekommen …
    Leo stand auf, als wollte er sofort losstürmen. Greene bedeutete ihm, er sollte sich wieder hinsetzen. Als Leo die Geste ignorierte, stand auch Greene auf.
    – Wir können die Gerüchte nicht überprüfen. Vielleicht sind es alles nur Lügen, um Sie aus Ihrem Versteck zu locken. Man hat mir Druck gemacht, dass ich Ihnen nichts sagen soll, aber ich dachte mir, dass Sie es bestimmt wissen wollen. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie die Geschichten glauben oder nicht.
    – Was für Geschichten?
    – Weil Sie übergelaufen sind, hat man Ihre Töchter zu Verhören geholt. Ihre Ehemänner wurden auch befragt. Sie wurden freigelassen, aber es steht noch nicht fest, was weiter passiert. Der nächste Schritt wäre, sie festzunehmen. Das ist noch nicht geschehen, aber es könnte dazu kommen. Ein plumper Köder, doch Ihrem Gesichtsausdruck zufolge ein wirksamer.
    – Wenn ich nicht in die Sowjetunion zurückkehre, werden sie ins Gefängnis gesteckt? Darin besteht die Drohung?
    – Leo, wir wissen doch gar nicht, ob das nicht nur ein Spielchen ist. Die können nicht sicher sein, dass Sie noch leben.
    – Haben sie eine Quelle in Amerika?
    – Das glaube ich nicht. Die Sowjets waren nie besonders geschickt darin, die CIA zu infiltrieren. Wenn Sie nichts unternehmen, werden sie davon ausgehen, dass Sie tot sind, und Ihren Töchtern passiert nichts. Davon bin ich überzeugt.
    Aber Leo wusste besser, wie der KGB funktionierte, er wusste, wie die Agenten dachten. Er hatte nicht vergessen, was er als ehrgeiziger junger Agent unternommen hätte. Ihm wurde schlecht vor Angst, als er sich vorstellte, in welche Gefahr er seine Töchter gebracht hatte. Kopfschüttelnd sagte er:
    – Mir bleibt nicht viel Zeit.

Am selben Tag
    Leo stocherte stumm in dem Abendessen herum, das er gekocht hatte. Die Drohung würde man wahr machen, obwohl seine Töchter unschuldig waren. Unter Stalin hatte sich eingebürgert, dass die Schuld des Vaters auf den Sohn überging. Ein einziges Verbrechen, eine einzige Anschuldigung konnte eine ganze Familie ruinieren, das Gift einer Verdächtigung übertrug sich auf die nächste Generation. So etwas änderte sich nicht so schnell. Diese Einstellung war beim KGB immer noch vorhanden, einer Organisation, die Agenten am liebsten untereinander verheiratete und so eine Dynastie von Geheimpolizisten schuf, die sich von den normalen Bürgern unterschied. Das war einer der Gründe, warum der KGB seine Heirat mit Raisa abgelehnt hatte. Wenn sich Leo nicht ergab, würde man seine Töchter verhaften und sie unter übelsten Bedingungen einsperren. Mit Bösartigkeit musste man beim KGB rechnen. Es interessierte nicht, dass seine Töchter unschuldig waren, und genauso wenig zählte es, dass sie nicht wissen konnten, ob Leo wirklich noch lebte. In den USA besaß der sowjetische Geheimdienst nur ein dürftiges Netzwerk, vor allem verglichen mit den europäischen Zellen. Allerdings verfügte er über eine einfache Möglichkeit, um Leo aufzuscheuchen. Entscheidend war, dass man Leo für tot hielt. Doch dieser Plan war plötzlich gescheitert.
    Leo schob seinen Teller zur Seite. Nara und Zabi war aufgefallen, dass etwas nicht stimmte, sie tauschten immer wieder Blicke aus. Er konnte ihnen nichts sagen, weil er noch nicht entschieden hatte, was er tun würde. Die Unsicherheit würde sie unnötig belasten. Zabi war gerade erst von einer Sitzung bei einer Psychologin zurückgekommen. Ihre äußeren Verletzungen waren zwar verheilt, aber sie ging zwei Mal pro Woche zu einer Therapie. Die erste Sitzung war um mehrere Monate aufgeschoben worden, weil sie mit Nara erst einen Englisch-Intensivkurs absolvieren musste. Leo schwänzte die meisten Stunden und

Weitere Kostenlose Bücher