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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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blutbeschmiert. Er überlegte, sie hinter dem Rücken zu verstecken. Vielleicht war es gut, dass die beiden es gesehen hatten. Blutige Hände waren der Preis, den er für ihre Freiheit gezahlt hatte.

Sechs
Monate
später

Manhattan
Hauptsitz der Vereinten Nationen
First Avenue & East 44th Street
15. November 1981
    Leo stand auf der First Avenue vor dem Haupteingang der Vereinten Nationen, an der Stelle, an der Jesse Austin vor sechzehn Jahren erschossen worden war. Nachdem er Fotos und Zeitungsartikel studiert und viele Stunden in der öffentlichen Bibliothek der Stadt verbracht hatte, konnte Leo genau die Stelle bestimmen, an der Austin die Obstkiste platziert hatte, die er den ganzen Weg von Harlem aus hierhergeschleppt hatte – die Bühne für seine Ermordung. Es gab keine Gedenktafel, kein Schild und keine Statue. Der unscheinbare Gehweg bot den Fußgängern keinen Grund, um über die Ereignisse an diesem Ort nachzudenken oder sich an die Leben zu erinnern, die in dieser Nacht ausgelöscht wurden.
    Leo kam oft hierher und stand mit den Händen hinter dem Rücken da, als sähe er vor sich einen Grabstein statt eines Gehwegs. Er dachte über die vielen Einzelheiten des Falls nach, die er immer noch nicht begriff. Zuerst einmal verstand er nicht, warum man Austin getötet hatte, und auch nicht, warum die sowjetische und die amerikanische Regierung offenbar gemeinsam den Mord vertuscht hatten. Warum hatten die Täter seiner Tochter die Pistole untergeschoben, um später Raisa den Mord anzuhängen? Diese Unstimmigkeit wies auf eine Planänderung und ein anschließend improvisiertes Vorgehen hin. Vor allem eine Frage blieb unbeantwortet:
    Wer hat meine Frau ermordet?
    In den Geschichtsbüchern standen als Antworten nur Lügen, die man beim oberflächlichen Lesen nicht durchschaute. Die Geschichte aus Ehebruch und verbotener Leidenschaft ergab ein fantastisches Märchen, das sich als Tatsachenbericht ausgab.
    Wenn Leo die Augen schloss, wurde er an diesen Abend zurückversetzt, er spürte die Hitze der Menschenmenge und die schwüle Sommerluft. Er konnte sich neben Austins Leiche auf die Straße knien und sehen, wie sich das weiße Hemd rot von Blut färbte. Er sah den Ausdruck auf Anna Austins Gesicht, die mit aufgerissenem Mund laut nach Hilfe schrie. Er hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme, die angstvolle Vorahnung, dass man ihrem Mann nicht mehr helfen konnte. Vor sich sah er, wie die Menge in Panik geriet und die Absperrungen umwarf; das Metall schepperte laut. Leo konnte seine Frau sehen, und er trat näher, so nah, dass er ihren Herzschlag hörte, als sie Elena in die Arme nahm, so nah, dass er die flachen, raschen Atemzüge seiner Tochter hörte, deren Träume von einer besseren Welt zerschmettert zu ihren Füßen lagen.
    Wie bei einer optischen Täuschung sah er alles lebhaft vor sich, und trotzdem verstand er nicht, was er sah. Obwohl von diesem Abend eine Fülle von Bildern existierte, war Elena auf keinem davon zu sehen. Ihrer Aussage nach hatte sie sich mitten in dem Chaos befunden. Sie hatte neben Jesse Austin eine sowjetische Fahne in die Luft gereckt. Aber es gab keine Beweise dafür, ihre Rolle wurde in keiner Zeitung erwähnt. Eine andere Geschichte war erzählt worden, die zu einem einzigen, eindrücklichen Foto passte. In der Sowjetunion war es nie abgedruckt worden, und Leo hatte es vorher noch nicht gesehen – es zeigte Raisa neben Austins Leiche. In Leos Augen kam sie ihm zu Hilfe. In den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit war sie eine durchgedrehte Mörderin, verbittert vor Eifersucht. Ein anderes Foto zeigte Raisa in Jesse Austins Wohnung, sie hatte dem Sänger eine Hand auf den Arm gelegt, im Hintergrund waren zerknitterte Bettlaken zu sehen. Leo wusste, dass dieses Foto retuschiert war – Elena hatte ihm erzählt, dass sie, nicht Raisa, Jesse Austin besucht hatte. Bevor Leo nach Amerika gekommen war, hatte er nicht begriffen, mit welcher öffentlichen Schande man seine Frau überzogen hatte und wie hingerissen die Reporter von der Vorstellung einer tragischen russisch-amerikanischen Dreiecksbeziehung waren. Die klügste Frau, die er je gekannt hatte, und die einzige, die er je geliebt hatte, war als eine naive, verblendete Geliebte in die Geschichte eingegangen. Der größte Idealist, den er gekannt, und einer der wenigen Männer, die er wirklich bewundert hatte, war als wollüstiger Lügner dargestellt worden, als derart verdorbener Mensch, dass viele eine Kugel ins Herz als

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