Agent 6
ältere Gäste. Er überquerte die Straße und betrat das Lokal. Es war Mittagszeit, im Café ging es laut und trubelig zu. Die kleinen, quadratischen Tische standen so nah beieinander, dass die Kellnerinnen seitlich durch die Lücken gehen mussten. In blau-weiß gestreiften Schürzen huschten sie gewandt durch den überfüllten Raum und servierten große Teller, auf denen sich schlichtes, köstlich aussehendes Essen häufte. Man konnte die dampferfüllte Küche sehen. Beinahe pausenlos klapperten irgendwo Teller. Viele der Gäste hier waren über fünfzig. Irgendjemand musste doch Jesse Austin und die Wahrheit über seinen Tod kennen, und sei es nur als Gerücht. Leo hätte sich auch die wildesten Spekulationen mit Freuden angehört.
Als er sich der Frau an der Kasse näherte, ärgerte er sich über seine begrenzten Englischkenntnisse. Mit seiner verbalen Unbeholfenheit machte er sich bei einem ohnehin misstrauischen Publikum nicht gerade beliebter.
– Ich möchte Fragen stellen. Über diesen Mann … Jesse Austin.
Leo faltete die Zeitungsartikel auseinander, und die Frau legte in einer verdutzten Geste, die er schon unzählige Male gesehen hatte, den Kopf schief. Dann rief sie nach hinten in die Küche:
– Komm mal schnell her!
Eine ältere Frau kam aus der Küche. Sobald sie Leo sah, schüttelte sie den Kopf. Leo hatte Pech, er hatte sie schon einmal um Hilfe gebeten. Sie hatte abgelehnt.
– Verschwinden Sie!
– Bitte …
– Ich habe es schon mal gesagt. Die Antwort lautet nein!
Leo sprach den Namen laut aus, um zu sehen, ob jemand reagieren würde:
– Ich will über Jesse Austin reden.
– Verschwinden Sie, sofort!
Ihr lauter Befehl brachte das ganze Café zum Verstummen, die Gäste und Kellnerinnen starrten ihn abschätzend an. Leo bemerkte etwas Interessantes: Egal wie sehr er sie aufbrachte oder wie wütend sie wurde, sie drohte nie damit, die Polizei zu rufen. Er hielt die Zeitungsausschnitte hoch, um sie den Gästen zu zeigen, und wiederholte den Namen:
– Jesse Austin. Bitte. Irgendwer. Reden Sie mit mir.
Er wartete vor dem Lokal, falls doch jemand auf seine Bitte eingehen sollte. Niemand tat es. Er seufzte. Hoffentlich arbeitete die Frau nicht jeden Tag. Er würde es wieder und wieder versuchen. Irgendwann würde er es schaffen.
New York City
Brighton Beach
Am selben Tag
Es war mitten am Nachmittag, und die U-Bahn war beinahe leer, als sie auf Brighton Beach zufuhr. Leo betrachtete ein Plakat mit einer schönen, jungen Frau im Bikini, in der Hand eine Flasche mit orangefarbener Limonade und der Aufschrift:
FANTA
Die anderen Fahrgäste ahnten nicht, wie berüchtigt diese Marke war, sie hatten keine Ahnung davon, wie diese Flaschen in Kabul eingesetzt wurden, welche Ängste sie in den Gefangenen auslösten, die auf ihr Verhör warteten. Hier in New York war es nur Zuckerwasser, ein Zeichen für Unbeschwertheit und Spaß, mehr nicht. Als Leo auf diese Werbung starrte, kam er sich vor wie ein Besucher aus einer anderen Welt.
Ein Mitreisender las Zeitung, zwischen seinen Füßen standen schlaffe Einkaufstüten. Ein anderer Mann stand im Gang, obwohl es noch freie Sitze gab, er hielt sich in Gedanken versunken an der Stange fest, während die Bahn unter der Stadt auftauchte. Eine Mutter war mit ihrer kleinen Tochter unterwegs, deren Beine über die Sitzkante baumelten, ohne den Boden zu erreichen. Sie erinnerte Leo an die Töchter, die er in Russland zurückgelassen hatte. Es verging kein Tag, nicht einmal eine Stunde, in der er nicht an sie dachte. Er hatte sie seit acht Jahren nicht gesehen und wusste nicht, wann es wieder so weit sein würde. Für seine Nachforschungen hatte er einen hohen Preis bezahlt. Die Vorstellung, dass Elena und Soja nicht einmal wussten, dass er noch lebte, schmerzte ihn. Er durfte keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen. Die sowjetische Regierung durfte auf keinen Fall herausfinden, dass er noch lebte. Wenn das passierte, würde man seine Töchter mit Sicherheit ins Visier nehmen. Er hatte keine Wahl, er musste Raisas Ermordung aufklären, aber genauso wenig konnte er sich damit abfinden, dass er Elena und Soja nie wiedersehen sollte, auch wenn er nicht hätte erklären können, wann und wie das geschehen sollte.
Abgesehen von den Werbeplakaten unterschied sich die New Yorker U-Bahn gar nicht groß von der in Moskau. U-Bahn-Fahren war überall gleich. Er beobachtete jedes Mal gespannt, wie sich die Türen öffneten und ein neuer Schwung Fahrgäste
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