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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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waren.
    Nach zwanzig Minuten bedankte sich Austin begeistert bei Raisa:
    – Sie haben eine echte Gabe. Wie Sie reden, was Sie über den Kommunismus sagen – danke, dass ich zuhören durfte.
    – Es war mir ein Vergnügen.
    Auch Jesse Austin war hingerissen von ihr. Es wäre schwer gewesen, das nicht zu sein.
    – Haben Sie heute Abend schon etwas vor, Raisa? Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mein Konzert besuchen würden. Leo hat Ihnen doch sicher davon erzählt.
    Sie warf Leo einen Blick zu.
    – Ja, das hat er.
    Sie konnte perfekt lügen.
    Dann kommen Sie also? Ja?
    Ihr Lächeln bewies einen messerscharfen Selbsterhaltungstrieb.

Moskau
Serp-i-Molot-Fabrik
Magnitogorsk
Am selben Tag
    Das Planungsteam für diesen Abend hatte mit der Idee gespielt, das Konzert direkt in der Fabrik stattfinden zu lassen. Man wollte Jesse Austin filmen, wie er inmitten von Maschinen und Arbeitern sang, um den Eindruck zu erwecken, das Konzert sei spontan zustande gekommen, als hätte Austin bei einem Besuch der Anlage plötzlich angefangen zu singen. Aber das war nicht umzusetzen. Es gab keine freie Fläche, die man als improvisierten Zuhörerraum hätte nutzen können. Die großen Maschinen hätten vielen den Blick versperrt, und es gab Bedenken, sie der ganzen Welt vorzuführen. Aus diesen Gründen würde Jesse Austin in dem benachbarten Lagerhaus auftreten, das man leergeräumt und zum Konzertsaal umfunktioniert hatte. Die provisorische Bühne war an der Nordseite aufgebaut, davor standen tausend Holzstühle. Um den Eindruck zu retten, dieses Konzert sei anders als die im Westen, wurden die Arbeiter direkt von der Fabrikhalle in den neuen Zuhörersaal gescheucht, ohne sich vorher zu Hause umziehen zu können. Die Organisatoren wollten nicht nur Arbeiter als Zuschauer, sie wollten Zuschauer, die auch wie Arbeiter aussahen, mit Öl an den Händen, Schweiß auf der Stirn und Dreck unter den Nägeln. Die Veranstaltung würde im krassen Gegensatz zu dem Elitismus stehen, der für Konzerte in kapitalistischen Ländern typisch war. Dort wurde das Publikum durch die gestaffelten Eintrittspreise in Klassen unterteilt. Die ärmeren Zuschauer saßen so weit von der Bühne entfernt, dass sie kaum etwas sehen konnten, während die völlig Mittellosen hinter den Kulissen auf das Ende des Konzerts warteten, um anschließend den Saal zu fegen.
    Leo überwachte den Umzug der Arbeiter von der Fabrik ins Lagerhaus, aber in Gedanken war er bei Raisa. In seiner Verzweiflung hatte er heute in ihrer Schule eine wirklich klägliche Figur abgegeben. Allerdings besaß er Macht, und Raisa hatte ihren Scharfsinn schon bewiesen: Vielleicht würde sie über die Einladung zu dem Konzert nach rein praktischen Gesichtspunkten entscheiden, und die sprachen für ihn. Er fragte sich, was sie wohl von seinem Beruf hielt. Während er darüber nachgrübelte, trieb er die Leute in seiner Nähe an, sich schnell auf die freien Plätze zu setzen. Eintrittskarten gab es nicht, das Konzert war kostenlos. Die Männer und Frauen füllten gehorsam alle Lücken, einige zitterten, als sie sich setzten. Das Lagerhaus war kaum mehr als eine stählerne Hülle. Das Dach war so hoch und die Fläche so groß, dass die Gasheizöfen nicht den ganzen Raum wärmen konnten. An die Arbeiter, die in der Mitte zwischen den Heizöfen saßen, wurden diskret Handschuhe und Jacken verteilt. Leo rieb sich die Hände und suchte die Menge ab – es blieb nicht mehr viel Zeit, und Raisa war noch nicht gekommen.
    Das Programm war schon vorher festgelegt worden, aber man konnte nicht wissen, ob Austin auch diese Pläne über den Haufen werfen würde. Er sollte auf die Bühne gehen, einige Lieder singen und dazwischen kurze polemische Ansprachen halten. Sprechen würde er auf Russisch, die Lieder würde er mit ein paar Ausnahmen auf Englisch singen. Leo ließ den Blick über das Publikum schweifen und stellte sich vor, wie es sich in dem Propagandafilm machen würde, der in Osteuropa und der Sowjetunion verbreitet werden sollte. Er fuhr einen Mann an, der ein paar Reihen weiter hinten saß:
    – Nimm die Mütze ab.
    Handschuhe würde man im Film nicht sehen, Mützen schon. Es sollte nicht zu erkennen sein, dass es im Zuhörersaal bitterkalt war. Als Leo mit einem letzten Blick prüfte, ob irgendetwas nicht ins Bild passte, sah er, wie sich einer der Arbeiter die Schmiere von seinen Stiefeln ins Gesicht rieb, um es zu schwärzen. Leo musste nicht hören, was gesagt wurde, als mehrere Männer in

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