Agent 6
der Nähe anfingen zu lachen. Er drängte sich durch die Zuschauer bis zu dem Mann und flüsterte:
– Das könnte der letzte Witz sein, den du gerissen hast.
Leo blieb vor dem Mann stehen, während der sich die Schmiere aus dem Gesicht wischte. Er musterte die Männer, die gelacht hatten. Sie hassten ihn, aber nicht so sehr, wie sie ihn fürchteten. Dann schob er sich aus der Reihe und ging zurück zur Bühne. Nach einer halben Stunde Füßescharren waren alle Plätze besetzt. Hinten drängten sich weitere Arbeiter stehend zusammen. Das Orchester war auf der Bühne. Das Konzert konnte beginnen.
In diesem Moment entdeckte Leo Raisa, die von einem Offizier in die Halle geführt wurde. Bisher hatte er sie nur in ihrer Arbeitskleidung gesehen, in praktischen robusten Sachen, das Gesicht unter einer warmen Mütze versteckt, die Haare zurückgebunden, die Haut blass und ungeschminkt. Jetzt hatte sie eine andere Art von Konzert erwartet und sich schick gemacht. Sie trug ein Kleid, das zwar keineswegs extravagant war, aber nicht so viel verhüllte wie sonst. Nervös bewegte sie sich zwischen all den Arbeitern mit ihren dreckigen Hemden und abgerissenen Hosen. Sie fühlte sich ungeschützt, fehl am Platze und falsch gekleidet. Die Blicke der Arbeiter folgten ihr, und das mit gutem Grund. Sie war an diesem Abend schöner als je zuvor. Als die beiden ihn erreichten, schickte Leo den anderen Offizier weg.
– Ich kümmere mich um unseren Gast.
Leo führte sie nach vorn, seine Kehle war trocken.
– Ich habe Ihnen einen Platz reserviert, den besten im Saal.
Raisa antwortete mit einem Anflug von Zorn:
– Sie haben mir nicht gesagt, dass das Konzert so formlos sein würde.
– Es tut mir leid. Ich war heute Mittag nervös. Aber Sie sehen wunderbar aus.
Das Kompliment schien ihren Ärger verrauchen zu lassen.
– Ich wollte Ihnen erklären, warum ich Ihnen einen falschen Namen genannt habe.
Er hörte, wie angespannt sie klang, und kam ihrer Erklärung höflich zuvor.
– Sie müssen sich nicht entschuldigen. Bestimmt werden Sie ständig von Männern nach Ihrem Namen gefragt. Das ist sicher lästig.
Raisa antwortete nicht. Damit das Schweigen nicht zu lang andauerte, fügte Leo hinzu:
– Außerdem muss ich mich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe Sie heute überrumpelt. Austin wollte eine Schule sehen. Ich habe Sie in Verlegenheit gebracht, und das war unfair. Sie hätten mich bloßstellen können.
Raisa wandte den Kopf ab.
– Es war eine Ehre, so wichtigen Besuch zu bekommen.
In ihre Stimme hatte sich ein förmlicher Ton geschlichen, sie sprach mit Leo nicht mehr schroff oder abweisend. Sie sah sich im Zuhörersaal um.
– Ich freue mich schon darauf, Mr. Austin singen zu hören.
– Ich auch.
Sie erreichten die erste Reihe.
– Da sind wir. Wie gesagt, die besten Plätze im Haus.
Leo trat einen Schritt zurück und bemerkte leicht amüsiert, wie wenig ihr strahlendes Aussehen zu den erschöpften Fabrikarbeitern passte.
Die Beleuchtung des Lagerhauses wurde ausgeschaltet, helle Bühnenlichter erstrahlten und tauchten den Aufbau in einen gelben Schimmer. Die Kameras fingen an zu filmen. Leo bezog auf den Stufen zur Bühne Position und blickte auf das Publikum. Austin trat von der anderen Seite her auf, er nahm die Stufen in großen Schritten. Seine Energie war bemerkenswert. Auf der Bühne wirkte er noch größer und beeindruckender. Mit einer kleinen Geste bat er bescheiden darum, den Applaus zu beenden. Als es still war, nahm er das Mikrofon und sprach auf Russisch:
– Es ist mir eine Ehre, hier zu sein, in Moskau, und an eurer Arbeitsstätte singen zu dürfen. Ihr bereitet mir immer einen ganz besonderen Empfang. Ich fühle mich hier nicht wie ein Gast. Ehrlich gesagt fühle ich mich wie zu Hause. Manchmal fühle ich mich hier sogar mehr zu Hause als in meinem eigenen Land. Denn hier, in der Sowjetunion, liebt man mich nicht nur, wenn ich singe, nicht nur, solange ich auf der Bühne stehe und euch unterhalte. Hier liebt man mich auch sonst. Hier spielt es keine Rolle, dass sich mein Beruf als Sänger so von eurer Arbeit unterscheidet. Ob ich singe, ob ich erfolgreich bin, ist egal. Ich bin Kommunist, ich bin ein Genosse genau wie ihr alle. Ich bin wie ihr! Hört nur diese wunderbaren Worte: Ich bin genau wie ihr! Und das ist die größte Ehre – anders zu sein und trotzdem gleich behandelt zu werden.
Das Orchester setzte ein. Austin wollte mit dem »Lied der Freunde« beginnen, das für
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