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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Flasche mit zwanzig Jahre altem Wein zerschmissen, die als Geschenk gedacht war, hatte einen Glasschrank eingeschlagen und sich dabei die Knöchel aufgeschnitten und musste schließlich ohne sie gehen. Er kam zu spät, mit einer bandagierten Hand und einem Viertelliter Scotch intus. Er hatte den Grill übernommen und wie ein dümmlicher Dienstbote stumm vor sich hin gestarrt, während das Fleisch zischend Fetttröpfchen auf die Kohle spritzte. Yates steckte in der unglücklichsten, schlimmsten Beziehung des ganzen Viertels, und jeder wusste es. Manchmal war es so demütigend, dass er sich wünschte, er würde sterben, wirklich sterben, dass sein Herz aufhörte zu schlagen und seine Lunge trocken wurde wie Staub.
    Diane war bei Ärzten und Therapeuten gewesen, die alle mehr oder weniger das Gleiche gesagt hatten. Irgendetwas stimmte nicht mit ihren Nerven. Das klang wie eine Diagnose, die man vor hundert Jahren gestellt hätte, und Yates konnte kaum glauben, dass so etwas heute noch gesagt wurde. Konnten Tabletten helfen? Man gab ihm Tabletten, die sie auch schluckte, aber keine brachte etwas. Damit ihre Ehe nicht noch weiter zerbrach, hatten sie versucht, ein Kind zu bekommen. Das Baby war während der Schwangerschaft gestorben. Obwohl Yates für die Kraft betete, Diane nicht die Schuld zu geben, tat er es doch: Er gab ihr die Schuld an seinem toten Kind. Er gab ihr die Schuld an der Kellnerin – an allem, was in seinem Leben faul war, weil die Fäulnis aus ihr kam. Er hatte ein Idyll gewollt: die perfekte Ehe, Kinder, das vollkommene Heim, er hätte finanziell für alles sorgen, seine Frau lieben können, er war bereit gewesen, und sie hatte es mit ihrem Wahnsinn zerstört. Vielleicht war das die Definition von Wahnsinn – etwas Gutes ohne jeden Grund zu zerstören.
    Yates erreichte die West 145th Street, parkte und kurbelte das Fenster hoch. Sein Auto war eines von gerade vier in dieser Straße – der Art von Straße in Harlem, in der es niemandem aufgefallen wäre, wenn ein Haus verfiel und die Bewohnerin eine Verrückte war, die nicht aus dem Bett kam. In ein solches Viertel hätte Diane gehört. Sie hatte ihr Heim gar nicht verdient. Hier gab es kein Grün, keine Parks, in denen Kinder spielen konnten. Die Kinder liefen auf den Straßen umher und spielten auf dem heißen Asphalt Himmel und Hölle. Sie hüpften über die Kreidekästchen, als wäre die Straße für sie da und nicht für die Autos. Jedes Mal, wenn er diese Kinder sah, hielt Yates kurz inne. Keinen Platz zum Spielen, keine Zukunft, keine Hoffnung – was ihn wütend machte, waren die Männer, die vor den Häusern saßen und nichts machten. Statt zu arbeiten, statt zu versuchen, für die Kinder einen Hof oder einen Vorgarten anzulegen, hockten sie nur zusammen und unterhielten sich, als hätten sie wichtige Dinge zu besprechen. Es war ein Witz, wie ernsthaft diese Schulabbrecher palaverten, während alte Frauen, sogar Siebzigjährige, ihre schweren Einkaufstaschen nach Hause schleppten. Yates hatte noch nie gesehen, dass die Männer geholfen hätten, dass einer angeboten hätte, einer Frau beim Tragen zu helfen, oder ihr die Tür geöffnet hätte. Er war überzeugt, dass sie auf Arbeit herabsahen. Arbeit war unter ihrer Würde. Anders konnte Yates es sich nicht erklären.
    Als er ausstieg, umfing ihn drückende Hitze. Die Backsteinbauten sogen jeden Sonnenstrahl auf, aber der Sommer war hier nicht angenehm wie in Teaneck, die Hitze hatte etwas Kränkliches an sich, wie ein Tropenfieber. Die Hauptstraßen waren verdreckt, und in den schmalen Seitenstraßen sah es noch schlimmer aus; sie waren derart zugemüllt, als würden sie nur auf eine Flut warten, die alles wegspülte. Gar keine schlechte Idee, eine Flut, dachte Yates, eine mächtige Sintflut, die vielleicht ein paar dieser faulen Nichtsnutze gleich mitnehmen würde. Als er die Straße überquerte, spürte er, dass ihn alle beobachteten, in der grellen Sonne folgten ihm Blicke aus Hunderten zusammengekniffener Augen. Kinder hörten auf zu spielen. Männer unterbrachen ihre Gespräche und beobachteten ihn mit unwirscher Abneigung, die sie nicht so offen zeigten, um sich Ärger einzuhandeln, aber offen genug, um ihren Hass zu demonstrieren. Sollten sie ihn doch hassen! Sollten sie ruhig glauben, seine Meinung hätte etwas mit ihrer Hautfarbe zu tun. Aber in Wahrheit interessierte es ihn nicht, welche Farbe ihre Haut hatte: Ihn interessierte, was für Männer sie waren – welche Farbe ihre

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