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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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davon sein, man hätte mit ihr eine Unbekannte aus dem Mittelmaß gerissen und sie auf eine internationale Bühne geschubst. Und das alles würden sie mit einem kurzen Blick an ihren schlichten Schuhen und dem Schnitt ihrer Jacke ablesen. Unter normalen Umständen hätte es sie nicht gekümmert, was Fremde von ihrem Aussehen hielten. Sie war nicht eitel. Im Gegenteil, sie blieb lieber unbemerkt. Aber in einer Situation wie dieser musste sie sich Respekt verschaffen. Wenn die Diplomaten Raisa nicht trauten, würden sie versucht sein, sich in ihre Pläne einzumischen.
    Im Fahrstuhl betrachtete Raisa sich ein letztes Mal verstohlen. Ihr Besucherführer bemerkte ihren nervösen Blick. Der gebildete junge Mann mit dem glatt zur Seite gekämmten Haar, dem fraglos teuren Anzug und glattpolierten Schuhen schenkte ihr ein gönnerhaftes Lächeln, als wollte er ihre Befürchtungen bestätigen: Ihre Schuhe waren wirklich schlicht, ihre Kleidung ärmlich, und ihr Erscheinungsbild erreichte nicht den Standard der Menschen, die in diesem Gebäude arbeiteten. Schlimmer war die unausgesprochene Botschaft, dass er großzügig war, dass er die Einschränkungen verstand, denen sie unterworfen war, und entsprechende Zugeständnisse machte. Raisa blieb stumm, sie fühlte sich überfordert. Nachdem sie sich gesammelt und den Vorfall so gut wie möglich verdrängt hatte, betrat sie das Büro des sowjetischen Botschafters bei den Vereinten Nationen.
    Zwei Männer erhoben sich, beide in tadellose Anzüge gekleidet. Wladimir Trofimow, einen gutaussehenden Mann in den Vierzigern, kannte sie bereits. Er arbeitete für das Bildungsministerium, das die Pläne für die Reise abgesegnet hatte. Schon in Moskau hatte sie ihn getroffen. Sie hatte jemanden erwartet, der durch und durch Politiker war und sich kaum für die Kinder interessierte, dabei hatte er sich als umgänglich und freundlich erwiesen. Er hatte Zeit mit den Schülern verbracht und sich mit ihnen unterhalten. Trofimow stellte Raisa dem anderen Mann vor.
    – Raisa Demidowa.
    Dann ahmte er einen amerikanischen Akzent nach.
    – Das ist Evan Vass.
    Sie hatte bei diesem Treffen keinen Amerikaner erwartet. Der Mann war groß, Ende fünfzig. Vass starrte sie so durchdringend an, dass sie kurz aus der Fassung geriet. Weder musterte er beiläufig ihre Kleidung, noch bemerkte er ihre einfachen Schuhe. Als sie ihm die Hand reichte, ergriff er sie ganz locker, als fände er sie abstoßend. Er schüttelte ihr die Hand auch nicht, er hielt sie nur. Raisa hätte ihre Hand gern weggezogen. Er schien nicht zu bemerken, dass ihr die Situation unangenehm war. Obwohl Raisa geübt hatte, waren ihre Englischkenntnisse begrenzt.
    – Ich freue mich, Sie kennenzulernen.
    Trofimow lachte. Vass nicht. Er ließ ihre Hand los und antwortete in perfektem Russisch:
    – Ich heiße Jewgeni Wassilew. Evan Vass nennen sie mich nur zum Spaß. Es soll doch ein Spaß sein, oder? Ich fand es allerdings noch nie lustig.
    Trofimow erklärte seinen Scherz.
    – Evan ist schon so lange hier und vom amerikanischen Leben so korrumpiert, dass wir ihn umbenannt haben.
    Schon dieser kurze Wortwechsel verwirrte Raisa – zu behaupten, jemand sei von der amerikanischen Lebensweise korrumpiert, war eine ernste Sache, dabei schienen die Worte nicht mehr als ein lockeres Geplänkel zu sein. Diese Männer lebten in einer exklusiven Welt, in der nicht einmal schwere Vorwürfe gefährlich waren. Als Trofimow ihr Wasser in ein Glas schenkte, hielt sie sich vor Augen, dass die Männer einander zugestehen konnten, was sie wollten, sie selbst aber nicht auf der gleichen Stufe stand, und dass Regeln, die den Männern egal waren, für sie selbst immer noch galten.
    Nach der befremdlichen Begrüßung legte Raisa noch einmal die Pläne für das Konzert dar und erklärte, wie wichtig die Details waren, von der Auswahl der Lieder bis zu ihrer Reihenfolge. Am vorigen Abend hatte sie sich im Hotel mit ihrem amerikanischen Pendant getroffen, ein zweites Treffen stand gleich im Saal der UN -Vollversammlung an. Nachmittags sollte eine Kostümprobe stattfinden. Trofimow rauchte die ganze Zeit, lächelte und nickte und sah gelegentlich den Rauchschwaden nach, die sich im Luftstrom der Klimaanlage kräuselten. Vass zeigte keine Reaktion, er beobachtete sie reglos aus pechschwarzen Augen. Als sie zu Ende gesprochen hatte, drückte Trofimow seine Zigarette aus.
    – Das klingt hervorragend. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Sie haben ja offenbar

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