Agent 6
Lächeln sie wahnsinnig machte. Hass strahlte von ihren Gesichtern wie Hitze von heißen Kohlen. Wenn sie glaubten, das würde ihm etwas ausmachen, irrten sie sich. Er hätte den jungen Mann, der auf einer Fensterbank hockte, gern gefragt:
Glaubst du, dein Hass schert irgendjemanden?
Von allem Hass auf der Welt zählte der Hass dieser Menschen am wenigsten.
Oben an der Treppe klopfte Yates gegen eine Tür. Er stand nicht zum ersten Mal an der Schwelle dieser Wohnung, aber man hatte ihn noch nie hereingebeten. Er hätte am liebsten eine Hausdurchsuchung angeordnet, doch dann hätten sicher die Nachbarn davon erfahren. Die Leute lebten dicht aufeinander und besuchten sich ständig gegenseitig. Ihm persönlich wäre es egal gewesen, wenn sie es mitbekommen hätten. Er sah keinen Grund, subtil vorzugehen. Er war versucht gewesen, trotzdem eine Durchsuchung anzuordnen, nicht, um irgendetwas zu finden, sondern als Teil seiner psychologischen Kriegsführung. Abgehalten hatte ihn nur die Rassenfrage. Man hatte ihm gesagt, eine illegale Hausdurchsuchung könnte zu Spannungen zwischen der Bevölkerung und der Polizei führen. Sie konnten es nicht mal als Einbruch tarnen, weil niemand in ein solches Drecksloch einbrechen würde.
Er klopfte noch einmal, dieses Mal lauter. Er wusste, dass die Wohnung klein war, sie bestand aus einem einzigen Zimmer. Egal was sie darin machten, dürfte es nicht länger als eine Sekunde dauern, die Tür zu erreichen und zu entriegeln. Vielleicht erkannten sie sein wütendes, ungeduldiges Klopfen wieder, vielleicht klopfte sonst niemand so in diesem Haus. Schließlich wurde die Tür geöffnet. Vor ihm stand der Mann, der vom FBI den Decknamen Die Rote Stimme erhalten hatte. Yates sagte:
– Hallo, Jesse.
Harlem
Bradhurst
West 145th Street
Am selben Tag
Agent Yates lehnte sich in den Türrahmen, so weit in Richtung Wohnung geneigt, wie es irgend ging. Als Reaktion darauf stellte sich Jesse Austins Frau neben ihren Mann und versperrte so gut wie möglich den Blick in die Wohnung – ein menschlicher Schutzschild. Die Geste amüsierte Yates. Er wusste, dass sie nichts zu verbergen hatten, keine Drogen oder Diebesgut, wie die meisten Familien in der Gegend. Ihr Trotz war reiner Selbstzweck, die beiden kämpften um ihre Privatsphäre, für ein Stückchen Würde, in einem jämmerlichen Versuch, sich seiner Autorität zu widersetzen.
Jesse hatte eine wuchtige Statur, er war groß und breit gebaut. Früher war er stark gewesen, jetzt war sein Rücken gebeugt, die straffen Muskeln erschlafft, er war nicht fett, aber aus der Form geraten. Seine Frau hatte im Gegenzug abgenommen. Vor fünfzehn Jahren war sie eine schöne, üppige Frau mit eleganten Kurven gewesen. Jetzt war sie so dünn, dass man ihr die schwere körperliche Arbeit ansah, mit schlaffer Haut unter den Augen und tiefen Falten, die sich über ihre Stirn zogen. Bei der Wohnung selbst gab es kaum etwas zu schützen: Das Schlafzimmer war gleichzeitig Wohnzimmer, das Wohnzimmer gleichzeitig Küche, die Küche gleichzeitig Esszimmer. Nur wenige Schritte führten vom Bett zum Herd, ein paar weitere zum Bad. Immerhin musste Yates ihr lassen, dass sie etwas netter und hübscher gestrichen war als einige der rattenverseuchten Slumwohnungen, die er schon gesehen hatte. Als auffallender Unterschied, als einziges Zeichen, dass diese Wohnung eine Geschichte zu erzählen hatte, standen dort vereinzelt teure Möbel, wie Museumsstücke, die aus einer längst vergangenen Zeit gerettet worden waren. Deplatzierte antike Vitrinen und dekorative Beistelltischchen trauerten, vom Glück verlassen, ihrem früheren Heim in der Park Avenue nach.
Yates richtete seine Aufmerksamkeit auf Jesses Frau – Anna Austin. Sie war viel zu klug, um die Kontrolle zu verlieren. Er bewunderte sie wirklich. Früher war sie schön gewesen, man hatte sie bei gesellschaftlichen Anlässen fotografiert, wo sie wie eine Prinzessin in Pelzen und Juwelen am Arm ihres verräterischen Mannes gehangen hatte. Beim Anblick dieser Fotos hätte Yates schwören können, dass ihre Zähne aus Elfenbein geschnitzt waren, ihr perfektes Lächeln wirkte unnatürlich weiß. Wie waren die Helden gefallen, so tief – von Diamanten zu Staub, von Glanz zu Armut. Trotz des Elends, trotz der selbst gewählten Not, der unnötig schlimmen Lage, die Jesse geschaffen hatte, hing sie immer noch am Arm ihres Mannes. Nur ähnelte sie jetzt eher einem kaputten Weihnachtsschmuck, einer gesprungenen
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