Agent 6
Präsidentschaftskandidat William Foster und sein schwarzer Vizekandidat James Ford hatten bei der Wahl 1932 mehr als hunderttausend Stimmen geholt, indem sie sich als Speerspitze des Wandels dargestellt hatten: als gesellschaftlich progressive, radikale Alternative zum kaputten Kapitalismus, der dazu geführt hatte, dass Angestellte aus Bürofenstern gesprungen waren und Familien in Barackenstädten im Central Park hausten. Beinahe jeder in der KPUSA hoffte, die Weltwirtschaftskrise würde das Ende des Kapitalismus bedeuten; genauer gesagt: jeder bis auf ihren jüngsten Rekruten Osip.
Osip war halb verhungert, krank und ohne Arbeit. Die Partei interessierte ihn nicht. Ihn interessierte nur, dass sie Geld hatte. Sie konnte ihn bezahlen. Die KPUSA erhielt illegal beträchtliche Gelder aus der Sowjetunion, die über eine Kette von Briefkastenfirmen übermittelt wurden. Die Partei konnte ihn mit Kleidung und Essen versorgen. Zum ersten Mal, seit er in New York war, aß er anständig, ohne bei jedem Bissen den Preis zu berechnen. Er wurde wieder kräftiger. Nachdem er ein paar Monate lang Flugblätter verteilt und simple Aufgaben für die Partei erledigt hatte, wurde beschlossen, dass er offiziell ein Geschäft eröffnen sollte. Die Global Travel Company sollte vorgeblich Pauschalreisen nach Osteuropa und in die Sowjetunion verkaufen. Unter dieser Tarnung sollte Osip potentielle Spione aus Russland herüberschaffen, Akademiker und Wissenschaftler, die wichtige militärische und wissenschaftliche Einrichtungen in Amerika infiltrieren sollten. Die amerikanischen Behörden würden die Bewerber akzeptieren, weil sie zu brillant waren, um sie sich entgehen zu lassen. Osip betrieb das Reisebüro, das unterm Strich zigtausend Dollar Verlust machte, seit beinahe dreißig Jahren.
Das Türglöckchen bimmelte, er hatte einen Kunden. Es kamen nur sehr wenige echte Touristen, kaum mehr als vier oder fünf pro Woche. Osip wischte sich die Hände ab, betrat den vorderen Ladenbereich und betrachtete seinen Kunden, einen Mann in den Vierzigern. Er trug einen zerknitterten Anzug. Seine Kleidung war schlecht geschnitten, seine Schuhe billig und abgestoßen, aber sein autoritäres, arrogantes Auftreten täuschte über viele Mängel hinweg. Er war ein FBI -Agent und, da war sich Osip sicher, derselbe Mann, den er vor Jesse Austins Wohnung gesehen hatte. Bisher hatte der Agent ihn noch nicht angesehen, er hatte nur in einer Broschüre geblättert. Osip fragte:
– Kann ich Ihnen helfen?
Der Agent wandte sich zu ihm um und sagte mit ironischer Förmlichkeit:
– Ich würde gerne wissen, wie viel ein einfacher Flug in die Sowjetunion kostet. Erster Klasse, natürlich. Ich will mir den Kommunismus höchstens als Luxusreise ansehen.
Dann schaltete er auf seine normale Sprechweise um.
– Ist das nicht eure Masche? Leute mit viel Geld bezahlen dafür, sich anzusehen, wie Leute ohne Geld leben?
– Die Reisenden wollen eine andere Lebensweise kennenlernen. Wie sie diese Gesellschaft beurteilen, liegt allein bei ihnen. Wir treffen nur die Vorbereitungen.
Osip streckte ihm die Hand entgegen.
– Ich bin Osip Feinstein, der Inhaber dieses Reisebüros.
– Agent Yates.
Yates zeigte seinen Ausweis, schüttelte Osip aber nicht die Hand. Stattdessen ließ er sich auf einen Stuhl sacken, als säße er zu Hause vor dem Fernseher. Er zündete eine Zigarette an, inhalierte, blies den Rauch aus und sagte dann nichts mehr. Osip blieb stehen.
– Ich nehme nicht an, dass Sie wegen einer Reise hier sind.
– Richtig.
– Was kann ich für Sie tun?
– Sie können es mir sagen.
– Was soll ich Ihnen sagen?
– Hören Sie zu, Mr. Feinstein, wir können den ganzen Tag lang um den heißen Brei herumreden. Ich lege jetzt einfach mal die Karten auf den Tisch. Sie werden schon seit Jahren beschattet. Wir wissen, dass Sie ein Kommunist sind. Sie werden als vorsichtig und raffiniert beschrieben. Trotzdem konnten meine Leute Ihnen heute nach Harlem folgen. Sie haben ein Wohnhaus betreten, in dessen Nähe ein Mann namens Jesse Austin wohnt. Mehrere Stunden später haben Sie das Haus verlassen und sind mit einem Fotoapparat am Arm in dieses Reisebüro zurückgekehrt. Wir haben alles gesehen. Und genau das macht mir Sorgen. Normalerweise sind Sie nicht so unvorsichtig. Mir kommt es vor, als würden Sie mit uns flirten, Mr. Feinstein. Sollte ich mich aber irren, sollte ich Sie damit in irgendeiner Weise beleidigt haben, vergessen wir das einfach:
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