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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Mädchen sahen ihn ausdruckslos an. Sie waren von Trauer überwältigt. Das jüngere Mädchen, Elena, blinzelte den Regen aus den Augen und blickte Mikael Iwanow hinterher, der über die Rollbahn zu einem Wagen geführt wurde. Er sah nicht zurück. Elena wirkte gequält. Es erstaunte Panin, dass sie ihn nach allem, was geschehen war, immer noch liebte und dass sie immer noch glaubte, er hätte sie auch geliebt.
    Während der Autofahrt beschrieb Panin den Mädchen knapp die Reaktionen auf die Ereignisse in New York und erklärte, wie sie – richtig oder falsch – dargestellt wurden. Die amerikanische Version, gedruckt in Zeitungen von New York bis San Francisco, von London bis Tokio, voller Drama und Sensation, ließ sich der Öffentlichkeit gut verkaufen. Die Geschichte erzählte von der schönen Raisa Demidowa, die eine Affäre mit dem Frauenheld Jesse Austin hatte. Die Beziehung reichte bis ins Moskau des Jahres 1950 zurück. Sie hatten sich bei einer von Jesses Reisen kennengelernt. Er hatte damals ihre Schule besucht und sie zu einem Konzert eingeladen, das im Lagerhaus einer Fabrik stattfand. Es gab sogar Filmaufnahmen von den beiden, einen sowjetischen Propagandafilm, in dem Raisa Demidowa nach dem Konzert Austin gratulierte. Sie hatte sich in ihn verliebt und ihn angefleht, sie aus der Sowjetunion herauszubringen. Es kam zu einer sexuellen Beziehung, die Jesse als beiläufig ansah, die für Raisa aber alles veränderte. Sie war besessen von ihm, hatte ihm regelmäßig geschrieben und war sogar so weit gegangen, an ihrer Schule ein massenhaftes Briefeschreiben zu organisieren, als sie von seinen Problemen mit den amerikanischen Behörden erfuhr. An dieser Stelle unterbrach Elena ihn und rief:
    – Das ist nicht wahr!
    Panin bedeutete ihr, sie sollte ruhig sein. Er hatte nur gesagt, das sei die Wahrheit, wie die Welt sie kannte. In dieser Wahrheit erschien Raisa als romantische Gestalt, die in Jesse Austin vernarrt war und sich in einer großen Liebesgeschichte über die Grenzen ihrer Länder hinweg wähnte. Für Jesse Austin war alles nicht mehr als ein vergessenes Sexabenteuer. Als sie von der sowjetischen Delegation hörte, die nach New York fahren sollte, drängte sie sich in die Gruppe, um Jesse Austin wiederzusehen. Sie träumte davon, Asyl zu beantragen, mit ihm zusammenzuleben und ihren verhassten Ehemann Leo loszuwerden, der zufällig für die Geheimpolizei arbeitete. Als sie Jesse Austin in Harlem besuchte, gönnten sie sich ein zweites Abenteuer. Es gab ein Foto von Raisa Demidowa vor einem ungemachten Bett mit zerwühlten Laken, neben sich den hünenhaften Jesse Austin. Wieder rief Elena dazwischen.
    – Ich war da, nicht Raisa!
    Ungeduldig erinnerte Panin sie daran, dass dies nur die Version war, mit der die amerikanischen Behörden die Situation entschärfen wollten. Dann erklärte er weiter, Austin hätte Raisa bei diesem Treffen klargemacht, dass er seine Frau niemals verlassen werde und dass sie nach Russland zu ihrem Mann zurückkehren müsse. Aus Eifersucht und Verzweiflung hätte Raisa eine Pistole gekauft. Vor dem UN -Gebäude hätte sie Jesse Austin erschossen. Man hätte sie mit der Waffe in der Hand geschnappt.
    Elena konnte sich nicht mehr beherrschen.
    – Das ist gelogen! Das ist alles gelogen!
    Panin nickte; es war gelogen. Aber diese Version der Ereignisse hatten die USA an die Presse gegeben, und sie verlangten, dass die Sowjetunion diese Darstellung unterstützte. Die Sowjetunion hatte bedingungslos zugestimmt. Eine einzelne Schützin, keine Verschwörung und keine größeren Kräfte am Werk – eine Geschichte von unerwiderter Liebe und der Wut einer verschmähten Frau. Die restlichen Friedenskonzerte hatte man abgesagt. Frol Panin und viele andere im Kreml hatten hart dafür gearbeitet, dass die Delegation ohne größere Verzögerung nach Hause zurückkehren konnte. Schließlich kamen die Schüler frei und durften nach Hause fliegen. Wann die Leiche von Raisa Demidowa überführt werden konnte, wusste man nicht.
    Während die Mädchen im Fond der Limousine noch die Geschichte verdauten, die man um sie gewoben hatte, sprach Panin sie auf ein anderes Thema an.
    – Ihr müsst auch wissen, dass Leo nicht mehr der Alte ist. Der Tod seiner Frau hat ihn …
    Panin suchte nach dem richtigen Wort.
    – … verstört. Und ich spreche nicht von normaler Trauer. Seine Reaktion geht weit darüber hinaus. Er ist nicht mehr der Mann, den ihr kennt. Ehrlich gesagt hoffe ich, dass eure

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