Agent 6
Rückkehr ihm hilft, sich zu fangen.
Das andere Mädchen, Soja, sagte zum ersten Mal auch etwas.
– Was können wir ihm sagen?
– Er wird genau wissen wollen, was passiert ist. Er ist geschult darin, Lügen zu erkennen. Die offizielle Version hält er für gelogen, davon ist er überzeugt. Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass es eine Verschwörung gegeben hat. Ihr müsst selbst entscheiden, was ihr ihm sagt. Ich werde euch dabei keine Grenzen setzen. Elena, vielleicht hast du Angst, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber in seiner momentanen geistigen Verfassung hätte ich mehr Angst davor, ihn zu belügen.
Moskau
Nowyje Tscherjomuschki
Chruschtschow-Slums
Apartment 1312
Am selben Tag
Der Fahrstuhl war immer noch außer Betrieb, und als Elena dreizehn Etagen zu Fuß nach oben steigen musste, verlor sie die Kraft, ihre Beine begannen zu zittern. Auf dem letzten Treppenlauf konnte sie schon ihre Tür sehen. Sie blieb stehen, sie konnte nicht weitergehen. Bei dem Gedanken an den Mann in der Wohnung stieg Panik in ihr auf. Wie hatte Leo sich verändert? Sie setzte sich auf die Treppe, den Rücken zur Tür gewandt.
– Ich kann das nicht.
Leo hatte ihnen nie wehgetan, hatte nie im Zorn die Hand erhoben oder sie auch nur angeschrien. Trotzdem hatte sie Angst. Er hatte etwas an sich, das Elena schon immer verunsichert hatte. Manchmal hatte sie ihn dabei ertappt, wie er allein dasaß und seine Hände betrachtete, als würde er sich fragen, ob sie ihm gehörten. Manchmal starrte er aus dem Fenster, in Gedanken weit weg, und obwohl jeder mal in Tagträume abglitt, war es bei ihm nicht nur müßige Versonnenheit. Finsternis sammelte sich um ihn wie statisch aufgeladene Staubkörnchen. Wenn er merkte, dass er beobachtet wurde, rang er sich ein Lächeln ab, aber es war ein brüchiges, oberflächliches Lächeln, und die Finsternis blieb. Der Gedanke an Leo ohne Raisa machte Elena Angst.
Soja flüsterte:
– Er hat dich lieb. Vergiss das nicht.
– Vielleicht hat er uns nur wegen Raisa lieb gehabt.
– Das stimmt nicht.
– Was, wenn er nur ihr zuliebe Kinder haben wollte? Wenn alles, was wir an ihm lieb haben, von ihr kam?
– Du weißt doch, dass das nicht stimmt.
Soja klang nicht vollends überzeugt. Frol Panin ging in die Hocke.
– Ich bin bei euch. Du musst keine Angst haben.
Sie gingen bis auf den Treppenabsatz. Frol Panin klopfte an die Tür. Obwohl sie Panin nicht vertraute und nichts über ihn wusste, war Elena froh, ihn bei sich zu haben. Er war ruhig und bedächtig. Körperlich wäre er Leo nicht gewachsen. Aber sie glaubte, dass es niemandem leichtfallen würde, seine Anweisungen zu missachten, so autoritär klang er. Die drei warteten. Sie hörten Schritte, dann wurde die Tür geöffnet.
Der Mann, der vor ihnen stand, war nicht wiederzuerkennen. Seine Augen waren vor Trauer geschwollen und wirkten unmenschlich groß. Seine Wangen waren eingefallen, in jeder Bewegung steckte Wahnsinn. Er verschränkte grundlos die Hände, als wollte er beten, dann löste er sie und hielt sie neben sich. Wenn er in eine bestimmte Richtung blickte, drehte er nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Körper. Er blickte über ihre Schultern in den Flur und auf die Treppe, vielleicht in der Hoffnung, Raisa wäre dort; seine riesigen Augen blickten erwartungsvoll, trotz allem, was er gehört hatte. Diese klägliche Hoffnung war für Elena so schmerzlich, dass sie weinte, ohne ein Wort gesagt zu haben. Sie hätten dort noch lange stehen können, denn Leo war nicht in der Lage zu sprechen. Panin griff ein und führte sie in die Wohnung.
Verwirrt durch den langen Flug, den Zeitunterschied, die Gefühle der letzten Woche und dieses Wiedersehens fragte sich Elena im ersten Moment, ob sie in einer anderen Wohnung stand. Die Möbel waren zur Seite gerückt, die Betten übereinandergestellt, Stühle weggeschoben, als sollte Platz für einen Tanz gemacht werden. Der Küchentisch stand mitten im Zimmer, direkt unter der Lampe. Er war übersät mit Ausschnitten aus russischen Zeitungen über den Mord an Jesse Austin. Dazwischen seitenweise wirre handschriftliche Notizen, Fotos von Jesse Austin. Und Fotos von Raisa. Auf der anderen Seite des Tisches stand ein Stuhl. Die Anordnung war unverkennbar. Alles war vorbereitet für ein Verhör. Leo sagte mit rauer, kratziger Stimme:
– Erzähl mir alles.
Mit ineinander verkrampften Fingern hörte Leo voll grimmiger Konzentration zu, während Elena von den Ereignissen in New York
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