Agent 6
erzählte. Sie war mitgenommen, warf Einzelheiten durcheinander, verwechselte Namen und stammelte immer wieder Rechtfertigungen. In solchen Momenten unterbrach Leo sie, bat um die reinen Tatsachen, verlangte Klarstellungen und beharrte auf jedem kleinen Detail. Er wurde nicht wütend, er schrie auch nicht. Dass er keine Gefühle zeigte, wirkte beunruhigend. Etwas in ihm ist gestorben, dachte Elena, als sie das Ende ihrer Erzählung erreichte. Leo sagte:
– Gib mir bitte dein Tagebuch.
Elena blickte verwirrt auf. Leo wiederholte die Bitte.
– Dein Tagebuch, gib es mir.
Elena sah ihre Schwester an, dann wieder Leo.
– Mein Tagebuch?
– Ja, dein Tagebuch, wo ist es?
– Die Amerikaner haben alles konfisziert, sie haben unsere Kleidung genommen, unsere Koffer, alles. Mein Tagebuch war darin.
Leo stand auf und ging hin und her.
– Ich hätte es lesen sollen.
Böse auf sich selbst schüttelte er den Kopf. Elena verstand nicht.
– Mein Tagebuch?
– Ich habe es gefunden, bevor ihr gegangen seid, unter deiner Matratze. Ich habe es zurückgelegt. Es hätte Informationen über diesen Mann enthalten, diesen Mikael Iwanow. Habe ich recht? Du hast sicher über deine Gefühle für ihn nachgedacht. Du hast aufgeschrieben, worum er dich gebeten hat. Du warst verliebt. Du warst blind. Ich hätte gesehen, dass die Beziehung eine Täuschung war.
Leo blieb abrupt stehen und schlug die Hände vor das Gesicht.
– Hätte ich doch nur das Tagebuch gelesen, dann wäre mir alles klar geworden. Ich hätte die ganze Sache aufhalten können. Ich hätte euch hierbehalten können. Raisa würde noch leben. Wenn ich doch nur wie ein Agent gehandelt hätte. Ich dachte, es wäre falsch, deine Sachen anzusehen. Aber das bin ich nun mal. Das tue ich. Es ist das Einzige, was ich kann. Ich hätte Raisa das Leben retten können.
Er sprach so schnell, dass seine Worte ineinanderflossen.
– Du liebst diesen Mann, diesen Mikael Iwanow, der für die geheime Abteilung gearbeitet hat? Er hat dir gesagt, es würde ihm um Gleichheit und Gerechtigkeit gehen. Elena, er hat dich nicht geliebt. Er wollte dich nur manipulieren. Manche Menschen wollen Geld. Andere wollen Macht. Du wolltest Liebe. Das war dein Preis. Du wurdest gekauft. Es war alles geplant. Die Liebe war eine Lüge, ein offensichtlicher, einfacher Trick.
Elena wischte sich die Tränen fort. Zum ersten Mal verspürte sie Wut.
– Das weißt du gar nicht. Du weißt nicht, was passiert ist.
– Ich weiß es. Solche Operationen habe ich selbst geplant. Das Schlimmste ist: Sie wussten, dass sie jemanden brauchen, der den Plan nicht kennt, um Jesse Austin zum Kommen zu überreden. Sie brauchten jemanden, der verliebt war. Einen Menschen voll Liebe und Optimismus. Sonst hätte Jesse Austin eine Falle vermutet. Er hätte es gespürt, wenn du ihn angelogen hättest oder wenn du nicht tatsächlich geglaubt hättest, was du sagst. Er hätte das Konzert nie besucht, wenn du ihn nicht darum gebeten hättest.
Elena stand auf.
– Ich weiß, dass es meine Schuld ist! Ich weiß das!
Leo schüttelte den Kopf und sagte leise:
– Nein, ich gebe mir selbst die Schuld. Ich habe dir nichts beigebracht. Ich habe dich ungeschützt und naiv in die Welt hinausgelassen, und das ist das Ergebnis. Raisa und ich wollten euch vor solchen Dingen bewahren, vor Lügen, Täuschungen, Betrug, dabei sind sie die Realität. Ich habe bei dir versagt. Ich habe bei Raisa versagt. Ich konnte ihr nur eines bieten, nur Schutz, und am Ende konnte ich ihr selbst den nicht geben.
Leo wandte sich an Frol Panin.
– Wo ist Iwanow jetzt?
– Er sitzt in einem Zug. Ich weiß nicht, wohin er fährt.
Leo zögerte; er spürte, dass Panin die Wahrheit sagte, trotzdem war er misstrauisch.
– Wer hat meine Frau ermordet?
– Die ganze Welt glaubt, dass es Anna Austin war.
– Das ist eine Lüge.
– Wir wissen nicht, was passiert ist.
Leo wurde zornig.
– Wir wissen, dass die offizielle Version der Ereignisse eine Lüge ist! So viel wissen wir.
Frol Panin nickte.
– Es stimmt, diese Version wirkt unwahrscheinlich. Aber um eine diplomatische Krise zu verhindern, haben wir eingewilligt, den Amerikanern nicht zu widersprechen.
– Wer hat Jesse Austin getötet? Waren wir das? Oder die Amerikaner? Wir waren es, oder?
– Soweit ich weiß, lautete der Plan nur, dass Jesse Austin vor den Vereinten Nationen auftauchen sollte. Man hat gehofft, dass die Polizei ihn verhaftet und wegschleppt, und
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