Agent 6
Mann erst die Grenze überquert hatte. Das Gold bewies, dass er ernsthaft vorgehabt hatte überzulaufen und umfangreiche Vorbereitungen für seine Flucht getroffen hatte. Für einen normalen Bürger war es beinahe unmöglich, sich Gold zu beschaffen; daraus ließ sich schließen, dass ein anderes Land beteiligt und der Mann ein professioneller Spion war.
In dem Geheimfach steckte mehr als nur Gold. Romm fand dort auch zwei Fotos. Er hätte geheimes Material erwartet und war überrascht, als sie sich für den Geheimdienst als wertlos erwiesen. Die Fotos zeigten zwei Frauen Ende zwanzig, beide an ihrem Hochzeitstag. Außerdem fand Romm Papiere. Er war noch verwunderter, als er sie auseinanderfaltete und vor sich eine Reihe sorgsam geglätteter, verblasster Ausschnitte aus sowjetischen Zeitungen sah, in denen es um den Mord an Jesse Austin ging, einem früher berühmten kommunistischen Sänger, der in New York von seiner Geliebten erschossen worden war, einer Frau namens Raisa Demidowa. Der Mord lag schon einige Jahre zurück, die Artikel stammten von 1965. Zu den Ausschnitten gab es umfangreiche handschriftliche Notizen, in kleiner Schrift säuberlich festgehalten, und eine Liste mit Namen; Menschen, mit denen dieser Mann sprechen wollte. Den Aufzeichnungen zufolge lautete sein Ziel New York, die USA – der Hauptfeind. Das scheinbare Motiv wirkte so sonderbar, dass Eli sich fragte, ob die Papiere eine Art Code enthielten. Er musste die Sache direkt den höchsten Behörden in Moskau melden.
Der Gefangene befand sich in einer Zelle im Keller – ein Soldat auf Patrouille hatte ihn angeschossen, aber nicht getötet. Nachdem die Wache den Mann aus großer Entfernung mit einem Scharfschützengewehr getroffen hatte, verfolgte sie ihn, konnte den Verwundeten aber nicht finden. Trotz der Verletzung hatte der Mann sich weiter durch den Schnee schleppen können. Die Wache war zum Lager zurückgekehrt, um Verstärkung für eine Suchaktion zu holen. Am Ende war der Mann von Hunden umstellt und hatte Glück, lebend gefasst zu werden. Seine Verletzung, eine einzelne Schusswunde, war nicht lebensbedrohlich, und man hatte ihn in der Kaserne provisorisch behandelt. Die Zähigkeit, mit der dieser Mann seine Gefangennahme trotz der großen Übermacht mehrere Stunden lang verhindert hatte, und sein ordentliches, auf das Nötigste beschränkte Gepäck wiesen auf eine militärische Vergangenheit hin. Er hatte bisher weder mit den Wachen geredet noch seinen Namen genannt.
Eli betrat die Zelle und betrachtete den Mann, der auf einem Stuhl saß. Sein Rücken war bandagiert, die Kugel hatte ihn an der rechten Schulter getroffen. Vor ihm stand ein Teller mit Essen, das er nicht angerührt hatte. Durch den Blutverlust sah er blass aus. Jemand hatte ihm eine Decke über die Schultern gelegt. Eli hielt nichts von Folter. Er wollte die Grenze schützen und seinen Job behalten. Er nahm mit den Zeitungsausschnitten und den Fotos dem Mann gegenüber Platz und streckte ihm die Papiere entgegen. Der Anblick brachte Leben in den Gefangenen. Eli fragte:
– Wie heißen Sie?
Der Mann antwortete nicht. Eli erinnerte ihn daran, in welch schwieriger Lage er war.
– Ihnen droht die Hinrichtung. Es liegt in Ihrem eigenen Interesse, mit uns zu reden.
Der Mann schien gar nicht zuzuhören, er starrte nur auf die Papiere, auf das Bild des Sängers Jesse Austin, den man in New York auf offener Straße erschossen hatte. Eli raschelte mit den Papieren.
– Warum ist das so wichtig?
Der Gefangene griff nach den Ausschnitten, seine Finger schlossen sich fest um das verblasste, vergilbte Zeitungspapier. Eli spürte, dass der Mann ihm die Sachen notfalls aus der Hand reißen würde. Neugierig ließ er sie los und sah zu, wie der Mann die Papiere vor sich hinlegte. Er berührte sie so ehrfurchtsvoll, als wären sie eine Schatzkarte.
Sieben
Jahre
später
Provinz Kabul
Qargha-See
Neun Kilometer westlich von Kabul
22. März 1980
Leo ging vollständig bekleidet in den See, bis zu den Knien und dann weiter, seine helle Hose blutete Saturnringe aus rotem Staub auf die Wasseroberfläche. Vor ihm bissen die schneebedeckten Zähne des Koh-e-Qrough-Gebirges in den blassblauen Himmel. Die Frühlingssonne schien hell, besaß aber noch nicht genug Kraft, um das eiskalte Flusswasser mit dem geschmolzenen Schnee aus den Bergen zu erwärmen. Er wusste, dass sich der See kalt anfühlen sollte, als er die Finger durch die smaragdgrüne Oberfläche zog, aber auch, als ihm
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