Agent der Sterne
Entsetzen verfolgt hatte, blickte mit einem Gesichtsausdruck zu mir, den ich grob mit Holen Sie mich hier raus! übersetzen würde. Verlegen zuckte ich mit den Schultern. Jetzt gab es keine andere Möglichkeit mehr, als die Sache auszusitzen.
Michelle stand auf, schnappte sich ein Drehbuch und ging zu Avika. »Ich werde Ihnen etwas sagen, Avika. Es wäre denkbar, dass ich mich mit meiner Behauptung, Sie seien eine Zicke, täuschen könnte. Im Augenblick bin ich völlig davon überzeugt, aber es liegt dennoch im Bereich des Möglichen, dass ich mich irre. Aber das können Sie mir nur beweisen, indem Sie eingestehen, dass Sie sich vielleicht mit Ihrer Einschätzung täuschen, dass ich nicht in der Lage bin, diese Rolle zu übernehmen.«
Michelle schlug das Skript gegen Avikas Oberkörper. »Und das können Sie nur tun, indem Sie mich vorsprechen lassen. Na los, Avika. Es kann nicht schaden, es einfach noch mal zu probieren.«
»Ihnen muss ich überhaupt nichts beweisen«, sagte Avika und griff nach dem Drehbuch.
»Aber sicher doch«, sagte Michelle, drehte sich um und kehrte zum Stuhl vor der Kamera zurück. »Weil es einen entscheidenden Unterschied zwischen Ihnen und mir gibt, Avika. Mir kann es scheißegal sein, wenn Sie glauben, ich könnte nicht schauspielern. Aber es ist offensichtlich, dass Sie sich darüber ärgern, wenn ich Sie als Zicke bezeichne.«
»Wohl kaum«, sagte Avika.
»Meinen Sie wirklich?«, sagte Michelle, während sie sich setzte. »Warum sind Sie dann noch hier?«
Avika klappte der Unterkiefer herunter. Roland, ansonsten ein bärenstarker Kerl, machte den Eindruck, als wollte er sich in irgendeiner Ecke verkriechen.
»Na los, Leute«, sagte Michelle. »Nun mal Tacheles reden! Lasst mich vorsprechen oder nicht, aber entscheidet euch!«
Roland kam wieder zu sich, bevor Avika etwas dazu sagen konnte. »Welche Szene würden Sie gerne vorspielen, Miss Beck?«
»Das überlasse ich Ihnen«, sagte Michelle. »Diesmal habe ich das gesamte Drehbuch auswendig gelernt.«
»Das komplette Skript?«, sagte Roland.
»Klar, warum nicht?« Michelle warf mir einen schelmischen Seitenblick zu. »Elvis hat es auch gemacht.«
Avika klappte das Drehbuch auf und las: »Wie kannst du es wagen, mir vorzuschreiben, was ich tun und lassen soll? Du bist meine Frau, nicht meine Herrin.«.
»Aber ich bin auch nicht dein Werkzeug, Josef«, sagte Michelle mit einer Intensität, die uns allen den Atem raubte. »Geh zum Judenrat, und du wendest deinem Volk und deinem Gott den Rücken zu. Und du wendest mir den Rücken zu. Denn ich bin deine Frau, Josef. Doch wenn du mit den Deutschen kooperierst, sind wir nicht mehr verheiratet. Dann bist du für mich genauso tot, wie du es schon bald durch die Hände der Deutschen sein wirst.«
Totenstille. Wir alle starrten Michelle fassungslos an. Selbst ich.
Michelle lächelte. »Habe ich eure Aufmerksamkeit geweckt?«
Avika blätterte wahllos zu einer anderen Stelle im Drehbuch und las eine Dialogzeile nach der anderen vor. Und jede wurde mit einer atemberaubenden schauspielerischen Leistung beantwortet, wie man sie nur ein- oder zweimal im Leben zu sehen bekommt. Es war verblüffend. Es war unmöglich. Es war die unglaublichste Schauspielerei, die ich je erlebt hatte. Dabei ging es nur darum, Dialogzeilen vorzusprechen. Wir alle fragten uns, was geschehen würde, wenn Michelle tatsächlich vor der Filmkamera stand.
Nach einer Stunde warf Avika das Skript zu Boden. »Das hätte ich nie für möglich gehalten«, sagte sie.
»Ich weiß«, antwortete Michelle. »Und ich danke Ihnen, Avika, meine gute Freundin, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, es Ihnen zu beweisen.«
Avika brach in Tränen aus und ging auf Michelle zu. Michelle weinte ebenfalls und kam Avika entgegen. Dann standen beide mitten im Raum und schluchzten hemmungslos. Roland und ich sahen uns an. Wir beide hatten das gleiche selbstgefällige Grinsen im Gesicht.
Wir waren im Geschäft.
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Der Ablauf des folgenden Jahres, wie es sich in den Schlagzeilen darstellte:
Daily Variety, 5. März
MICHELLE BECK IN »BITTERE ERINNERUNGEN«
Michelle Beck hat nach ihrer Nahtoderfahrung während der Vorproduktion von Rache für die Erde keine Zeit verloren und heute den Vertrag für die Hauptrolle in Bittere Erinnerungen unterschrieben, die Verfilmung des Lebens der Bürgerrechtlerin und Holocaust-Überlebenden Rachel Spiegelman. Berühmt wurde Spiegelman durch ihre Verbindung zu Martin Luther King in den
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