Agent der Sterne
Beth Israel Seniorenresidenz«, sagte Michelle, als sie die steinerne Inschrift über dem Eingang des Gebäudes gelesen hatte. »Tom, mir ist klar, dass Hollywood keine Schauspielerinnen mehr engagiert, die ein bestimmtes Alter überschritten haben. Aber das finde ich doch reichlich übertrieben.«
»Haha«, sagte ich. »Komm mit.« Wir gingen hinein.
Die Schwester am Empfang vergeudete keine Zeit damit, mich eines zweiten Blickes zu würdigen. Diese Zeit nutzte sie lieber dazu, Michelle zu betrachten.
»Sind Sie nicht Michelle Beck?«, fragte sie.
»Ich bin nicht Michelle Beck«, sagte Michelle. »Aber ich spiele im Fernsehen ihre Rolle.«
»Entschuldigung«, sagte ich und lenkte die Aufmerksamkeit der Schwester auf mich. »Ich habe einen Termin mit Sarah Rosenthal vereinbart. Ich bin Tom Stein, ihr Enkel.«
»Entschuldigung«, sagte die Schwester und erholte sich von ihrem VIP-Schock. »Selbstverständlich. Sie ist gerade aus einem Nickerchen erwacht, also müsste sie recht geistesgegenwärtig sein. Es ist gut, dass Sie sie besuchen. Wir haben schon viel von Ihnen gehört. Ihre Mutter kommt ziemlich häufig hier vorbei, müssen Sie wissen.«
»Das weiß ich. Da ich sowieso in der Gegend bin, dachte ich mir, dass ich sie wieder einmal besuchen könnte.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte die Schwester und blickte kurz auf Michelle. »Gehören Sie beide zusammen?«
»Zu zehn Prozent ja«, sagte Michelle.
Die Schwester sah sie mit leichter Verwirrung an. Außerhalb ihres Blickfelds trat ich Michelle auf den Fuß. Kräftig.
»Ja, wir gehören zusammen«, sagte ich.
»Folgen Sie mir.« Die Schwester stand auf und zeigte in den Korridor.
Sarah Rosenthal, meine Großmutter, saß in einem Rollstuhl und starrte aus dem Fenster. Die Schwester klopfte an die offene Tür, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Meine Großmutter drehte sich um, erkannte mich und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Sie hatte ihre Zähne im Mund. Rasch ging ich hinüber und umarmte sie, während sich die Schwester zurückzog. Michelle war im Türrahmen stehen geblieben, aufmerksam, aber unsicher.
»Ich wusste gar nicht, dass deine Großmutter noch lebt«, sagte Michelle.
»Jetzt weißt du es.« Ich hockte mich hin und hielt die Hand meiner Großmutter. »Aber ich sehe sie nicht sehr oft. Sie hat sich hier zur Ruhe gesetzt, als ich noch auf der Grundschule war. Wir sehen uns an Feiertagen und im Sommer, aber sonst kaum. Großmutter war immer ein sehr unabhängiger Geist. Nicht lange nach dem Tod meines Vaters hatte sie einen Schlaganfall, durch den sie ihre Sprachfähigkeit verloren hat. Meine Mutter zog hierher, um ihr näher zu sein.«
Meine Großmutter blickte zu Michelle und winkte sie herbei. Michelle kam. Großmutter hielt ihr die andere Hand entgegen, und Michelle nahm sie an. Großmutter schüttelte sie und drehte sie anschließend um. Dann sah sie mich an.
»Was tut sie?«, fragte Michelle.
»Sie sucht nach einem Verlobungsring. Großmutter drängt mich etwa seit meinem dreizehnten Lebensjahr zum Heiraten.« Ich sah wieder meine Großmutter an. »Michelle ist nur eine Klientin von mir, Großmutter. Aber du hörst bestimmt gern, dass ich jetzt eine Freundin habe. Eine sehr nette Frau.«
»Sie ist ein bisschen wie ich«, sagte Michelle zu Großmutter.
»Das nächste Mal werde ich sie mitbringen«, sagte ich. »Okay?«
Großmutter nickte und tätschelte dann Michelles Hand, als wollte sie sagen: Trotzdem bin ich mir sicher, dass auch du ein sehr nettes Mädchen bist.
»Michelle, würdest du bitte die Tür schließen?«, sagte ich.
Michelle tat es und kehrte dann zu uns zurück.
»Wirst du mir jetzt erklären, warum wir hier sind?«, fragte sie.
»Meine Großmutter wurde nicht in den USA geboren«, sagte ich. »Sie kam in Deutschland auf die Welt und hat dort den ersten Teil ihres Lebens verbracht. Sie war ein Teenager, als Hitler an die Macht kam. Sie war frisch verheiratet, als sie und der größte Teil ihrer Familie in die Lager geschickt wurden.«
»Oh«, sagte Michelle. »Das tut mir furchtbar leid.«
»Nach dem Krieg kam Großmutter in die USA, heiratete ein zweites Mal und hat in relativ hohem Alter ein Kind bekommen. Meine Mutter. Und das ist auch schon fast alles, was ich über ihre Lebensgeschichte weiß.« Ich blickte zu Michelle auf. »Großmutter hat meiner Mutter nicht viel über ihre Zeit in Deutschland erzählt, und natürlich hat auch meine Mutter nicht oft mit mir darüber geredet. Ich
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