Agenten - Roman
sich tief einfressenden Ernst.
Wir sollten es mit allem aufnehmen können, und so machten sich die anderen unter Pauls Leitung daran, den Katastrophen zu Leibe zu rücken. Eine Gruppe kümmerte sich um den Umweltschutz und recherchierte die Aussichten alternativer Energien; man empfahl umweltfreundliche Produkte mit anheimelnden, entspannt klingenden Namen, die in der Kreisstadt nirgends zu kriegen waren, und erörterte die Chancen von Solar-Gewächshäusern und Humus-Toiletten. Beliebter waren Artikel über den Frieden; sie hatten etwas von rührenden Evangelien, in denen laufend eine Bereitschaft zur Nächstenliebe gepredigt wurde, die niemand ganz geheuer sein konnte. Keiner von uns hatte sich früher mit christlichen Ratschlägen abgefunden, aber plötzlich sollten die weichen Tugenden erstrahlen, nur nicht von oben, sondern zur Seite gesprochen. Doch Militärbasen waren nahe genug, und jeder hatte das heruntermanövrierte Koblenz vor Augen, eine Gespensterstadt, in der sich Tausende durchgedient und bei der Instandhaltung überholter Waffen einen tief sitzenden Lebensekel zugezogen hatten.
Paul selbst galt als Experte in Atomfragen. Wenn er das magische, zweisilbige Wort ausspielte, hatte er den besten Trumpf in der Hand. Atom erweckte Erinnerungen an einen geheim gehaltenen, Unheil bringenden Gral und eine dumpfe Gemeinschaft siechender Wärter und Hüter, deren Berührung für jeden Eindringling tödliche Folgen hatte. Dieses mythische Abziehbild geriet mir immer wieder vor Augen, obwohl Pauls Sprache technische Versiertheit verraten und gewiß jede Annäherung an den kindlichen Sagenbezirk vermeiden
wollte. Er hatte sich den empfindlichsten, ergiebigsten Bereich ausgewählt, dem man ohne spezielle Kenntnisse nicht gewachsen war, und obwohl ich ihm nicht immer folgen konnte, war es doch eine Lust, ihm zuzuhören, wenn er seine satten Atomvokabeln loswurde. Fissionen und Fusionen, Moderatoren und Kontaminationen zeugten als gezielt eingesetzte Begriffe von bestechender Souveränität, mit der ein schwacher Friedenswille nicht mithalten konnte.
Da ich keinem dieser Lager angehörte, hatte ich in der Redaktion nur einen schwachen Stand. Ich schrieb über Themen, die gerade noch geduldet wurden, scharfe, zupackende Berichte über das Leben der Jugendlichen in der Kreisstadt, soziale Reportagen mit präzise benannten Details über Aussteiger und kleine Rebellen, an die ich mich mit Notizblock und Tonbandgerät herangemacht hatte. Ich tat mir auf diese Übungen einiges zugute, aber ich wußte, daß die anderen darüber hinweglasen, weil es ihnen nicht paßte, in den üblen Mief ihrer Umgebung hineinriechen zu müssen. Manchmal vermutete ich auch, sie würden durch meine Berichte an ihre eigenen Vagabundenträume erinnert; in manchen steckte, wie auch in mir, noch dieses lauernde Verlangen, ein Schwanken zwischen Aggression und Flucht, eine heftige Sympathie für das Abseitige und die Zonen außerhalb aller Gemeinschaften. Aber man gab dieser lediglich individuell bleibenden Willkür nicht recht und brachte sie mit Hilfe eines geschmeidigen sozialen Gewissens unter Dach und Fach.
In der Kreisstadt aber standen andere Gestalten, fluchende, alles verhöhnende, und machten den weit auslaufenden Anger vor der einzigen größeren Kirche zum Wartesaal. Manche hatten irgendwo eine Lehre begonnen und waren schnell
wieder ausgestiegen, als ihnen die Arbeit die Luft genommen hatte. Andere waren resigniert von der Schule abgegangen, zurückgeworfen auf ihre Wut, ohne dafür ein Ziel zu wissen. Sie wurden von den Eltern beschimpft und davongewünscht, aber sie hatten nichts vor Augen, und so blieben sie, wie starre Mißbildungen in einer sonst ordentlichen Welt. Sie bevölkerten ausgediente Kneipen und lungerten tagelang in der Nähe des Kriegerdenkmals herum, sie schmückten sich mit scharfmacherischen Punk-Symbolen oder ließen ihr Äußeres langsam verwittern. Sie rührten sich lange nicht von der Stelle und taten, als hätten sie nur Augen für sich; plötzlich aber fielen sie aus, umzingelten Feinde, streiften angetörnt herum und brachten Bewegung in die kleine Fußgängerzone. Sie zogen den Abscheu der Älteren auf sich und weideten sich daran, sie galten als gefühllos, apathisch, und doch eroberten sie sich durch ihr Verhalten gerade bei manchen Schülern eine geheime, niemals laut bekannte Sympathie. Wir kamen ihnen nie zu nahe, da galten deutliche, nicht zu überschreitende Grenzen; aber wir hatten ihr Treiben
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