Agenten - Roman
unaufhörlich, hemmungslos, bis zum Morgengrauen …
Mit Walter trafen auch die anderen Nachzügler in Wiesbaden ein. Die meisten von ihnen hatten keine Chance, denn die besten Plätze waren längst besetzt, und es blieb ihnen nichts, als aufzusteigen auf dieses sich immer schneller drehende Karussell oder abseits zu stehen, auf Almosen angewiesen. Walter war einer der wenigen, denen der Anschluß gelang, ihm folgten noch andere Schulkameraden, sie wollten in Mainz studieren und in Wiesbaden wohnen, denn es hatte sich herumgesprochen, was die Stadt nun zu bieten hatte. Der Ersatzdienst oder die Zeit beim Bund hatte viele verbraucht, sie mußten sich umstellen, denn sie paßten nicht in die neuen Bilder und hatten von Design höchstens gehört. Die lange Isolation auf dem Land oder in abgelegenen Kasernen hatte Spuren hinterlassen; sie wirkten gehemmt, unfähig, sich dem
neuen Luxus hinzugeben, und so begannen viele, sich in die alternative Szene zu flüchten, wo sie Schutz suchten vor dem fremden, ihnen cool erscheinenden Leben aus business und Intrigen.
Es war mir peinlich, ihnen auf der Straße zu begegnen. Manche trugen noch immer die alte Versteckkleidung, ausgebeulte Jeans oder unansehnliche Parkas, mit denen sie sich nach außen verschlossen. Sie sprachen langsam, gedehnt, und ich wurde leicht ungeduldig, wenn die Zeit mit diesem unentschiedenen Palavern verging. Sie aber waren an diese monotonen Gespräche gewöhnt, in denen jede Richtung verdächtig erschien und über denen die Stunden lastig wurden. Sie hielten noch viel zusammen, zogen in kleinen Gruppen durch die Stadt und spielten die alten Posen weiter, ein dauernder Austausch von selbstgedrehten Zigaretten mit furchtsamen Blikken auf all die unerschlossenen Terrains. Am liebsten wären sie in große Altbauwohnungen gezogen, so etwas war noch immer ein Traum, doch die Mieten waren längst zu hoch und auch für Wohngemeinschaften nicht mehr erschwinglich. So wurden sie nach außen abgedrängt, in die verstaubten, unbeachteten Peripherien, wo sie klamme Stuben mit Kohleöfen bezogen und sich einrichteten mit dem üblichen zusammengetragenen Klimbim. Einige Male war ich ihnen dort noch begegnet, hatte Tee mit ihnen getrunken und zwei, drei Stunden in einer Küche verbracht, in der die notwendigsten Lebensmittel in Einmachgläsern aufbewahrt wurden. Doch ich hielt schon den Mief dieser Stuben nicht aus, alles verschlissen, viel zu häufig begrapscht, trostlos geworden in kreischender Deplaziertheit. Mehr noch störte mich, daß sie sich mit all dem zufriedengaben, sie setzten noch immer auf verhaltenen
Protest , auf kleine Gesten des Widerstands und zur Schau gestellter Unangepaßtheit. Dabei war ihr Verhalten nur provisorisch, sie waren ahnungslos, müde, und sie hatten nicht einmal den Mut, sich das einzugestehen. Kein Zunder, nicht der geringste Elan, statt dessen diese verquasten Dialekte aus schlechter Soziologie und der gängigen Portion Weltekel. So blieben sie meist ganz unter sich, eng zusammenlebend in diesen heruntergekommenen Quartieren mit verwitterten Farben im Treppenhaus und Briefkästen, die klemmten. Das Studium verschaffte ihnen die Illusion einer geregelten Arbeit, man hielt sich an die vorgeschriebene Stundenzahl und dachte nicht lange darüber nach, wofür man die Zeit weggab. Die meisten lungerten so in den Tag hinein, höchstens darauf bedacht, nicht gegen die Regeln des Zusammenlebens zu verstoßen, deren Einhaltung nicht viel erforderte. Sie kamen leidlich miteinander aus, und wenn einer schlapp machte, wurden ihm ruhig die Leviten gelesen, mit jener leichten Ironie, die jedem verzeiht. So hielten sie alles im Lot , es gab weder Ekstasen noch Sprünge, beinahe jeden Morgen trotteten sie Station für Station hinüber nach Mainz, zu den Futterkrippen des alten Wissens, das ihnen nichts mehr bedeutete. Sie waren abgehängt und lebten in Quarantäne, so lange geduldet, bis man sie vor die Tür setzen würde. Es war ein Betrug, doch die meisten kompensierten ihn mit Studentenromantik , ein paar Jahre Dämmern in Kneipen, ein wenig Gefasel über Frust, Bock & Ramsch , unterlegt mit Mietquerelen oder westöstlichem Erkenne dich selbst.
Ich floh ihre Kreise, denn sie erinnerten mich an daheim. Manchmal war es unumgänglich, nach Hause zu fahren, Fest-oder Feiertage forderten dann ihren Tribut, und ich erlebte,
wie die Eltern immer weniger klarkamen und Sarah Provinzberühmtheit erlangte. Vater hatte sich die Arbeit in der
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