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Agenten - Roman

Agenten - Roman

Titel: Agenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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verwandelt, und Mutter war die selbsternannte Oberärztin, leidgeprüft, aber angeblich stark. Sie lief wie ein Kräutchen-rühr-mich-nicht-an durch die Zimmer, immer darauf bedacht, viel Staub aufzuwirbeln. Seit Vater seiner Krankheit wegen weniger verdiente, benutzte sie Begriffe wie Abstieg oder Verarmung. Dabei war nur zu ersichtlich, daß die Kurve nach unten sie reizte, negative Tendenzen förderten ihre perversen Energien. In ihren Augen hatten sich die schlimmsten Befürchtungen bestätigt, der Mensch war ein schwaches Wesen voller Komplexe, und ich hatte nicht die notwendige Reife, um soviel Philosophie zu ertragen.
    Sie ging es falsch an. Sie hatte Vater ein eigenes Zimmer
verpaßt, und nun schliefen die beiden getrennt, als sei eine Seuche der Grund, seine nächtliche Nähe zu meiden. Morgens schlich sie auf Zehenspitzen heran, drückte die Klinke und steckte den Kopf in sein Verlies. Er rührte sich nicht, diese Bequemlichkeit war nur zu verständlich, niemand ließ sich gern so behandeln, als sei er vom Aussatz gezeichnet. Dann die ersten Erkundigungen, wie geht es dir heute , wie heute , und die Antwort kam prompt, es geht mir wie immer , wie immer. Heute und immer , das war Einerlei, und Mutter sorgte dafür, daß sich an diesen Verhältnissen nichts änderte. Sie zog die Vorhänge zur Seite, ein Anlaß zur Klage über das Wetter, schon waren die Saiten gestimmt für den Tag, alles nur eine Last und die Zeit nur ein Rinnen.
    Anstatt Akzente zu setzen, ließ Mutter von allem ab, was der Vorbereitung bedurfte. Die Abendgesellschaften waren seltener geworden, schließlich hatte man sie ganz eingestellt, und die Folge war eine Abkehr der Freunde, die es leid waren, Mutters allgegenwärtige Trauer zu teilen. So wurden die Eltern immer mehr aufeinander verwiesen, der eine schaute dem anderen seine Neurosen ab und gestaltete sie nach eigenem Gutdünken um. Am Ende waren sie eher ein Paar als in früheren Zeiten, unzertrennlich geworden durch eine gemeinsam durchlittene Krankengeschichte, deren Wurzeln in jedem von beiden gekeimt hatten, die aber nur an Vater sichtbar geworden war. Manchmal gingen sie jetzt miteinander spazieren, und wenn man sie durch den Ort schleichen sah, war es der Gang eines Patienten unter der rücksichtsvollen Führung einer Krankenschwester. Sie verreisten nicht mehr, schon der Gedanke daran ließ sie erschrecken, sie horteten nur noch Befürchtungen, und in elenden Augenblicken gaben sie der Welt alle Schuld. Ich konnte nichts für sie tun,
wenn sie zusammen waren, verhielten sie sich abwehrend; sie hatten den Blick für die Kinder verloren und sich ganz in ihre eigenen Seelenhaushalte versponnen.
     
    Auch Sarah hatte sich mit der Zeit ganz von ihnen gelöst. Sie hatte das vorgezogene Abitur mit einer Punktzahl bestanden, die für zwei ausgereicht hätte. In den Wochen davor hatte sie das Haus nicht verlassen, schließlich war sie so firm, daß sie einen englischen Text nicht nur ins Deutsche, sondern gleich auch ins Französische übersetzte. Auf dieser Stufe war das Lernen ein Spiel, ein blitzschnelles Wechseln zwischen den Fächern, und die Aufmerksamkeit galt nur noch winzigen Lücken und diskussionswürdigen Varianten. In Biologie war sie dem Stoff soweit voraus, daß sie sich mit Fachleuten anlegte. Sie hatte sich an einem Wettbewerb beteiligt, Jugend forscht , und sie hatte den ersten Preis für die Erfindung eines Gifts erhalten, mit dem man Fliegen betäubte, ohne sie zu töten. Die Firma Boehringer/Ingelheim hatte ihr ein Praktikum angeboten, und für einige Wochen hatte sie dort die Experten verblüfft, schnell, vernarrt in jedes Detail, mit einer Auffassungsgabe, die grenzenlos schien. Dabei machte sie nicht einmal den Eindruck großen Bemühens; sie saugte das Wissen auf, als brauche sie nur einen einzigen Blick auf etwas zu werfen, und sie hatte für alles anscheinend gleich einen Ort, wo es verwahrt oder bereitgehalten wurde für neue Verbindungen.
    In diesen Wochen hatte die Lokalpresse sich um sie bemüht. Man hatte ein Photo gebracht, ein frontal abgelichtetes Mädchengesicht mit scharf geschnittenen Mundwinkeln und von Schlaflosigkeit herrührenden dunklen Ringen unter den Augen. Ein ahnungsloser Reporter hatte sein Bild der harmonischen Familie entworfen, und auch ich war erwähnt
worden, der ältere Bruder, der Karriere machte im Zeitungsgeschäft. Sarah hatte das alles nicht irritiert, sie wollte hinaus aus der Kreisstadt, studieren , nichts als

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