Agenten - Roman
Kanzlei mit einem Partner teilen müssen, seit es immer häufiger vorkam, daß er für Monate ausfiel. Seine Depressionen meldeten sich schleichend, zunächst nur als Müdigkeit, dann in kaum bemerkbaren Anzeichen von Knauserei und verräterisch langem Getüftel. Er reagierte überempfindlich auf Katastrophen, selbst weit entfernte Flugzeugabstürze gingen ihm nahe, ganz zu schweigen vom übrigen Zeitungsgemäre, das keine Drohgelegenheit ausließ. Ihm war, als seien alle Schrekken miteinander im Bunde, eingeleitet und vollstreckt von einem namenlosen Kommando. In panischer Hast lief er dann durch die Wohnung, für eine Viertelstunde geschüttelt, um bald wieder niederzusinken in Apathie. Alles war ihm zuwider, er bekam keinen Bissen mehr herunter, der Ekel paarte sich mit Angst, und niemand konnte ihn beruhigen, selbst nicht mit langem Zureden. Wenn man so mit ihm sprach, schnappte er nur die bedrohlichen Wörter auf und kehrte sie gegen sich selbst; er machte sich Vorstellungen vom baldigen Ende , diese Verwechslung des eignen Befindens mit Menetekeln allgemeinerer Art war charakteristisch.
In solchen Phasen hielt er sich selbst für das Letzte; es war ihm nicht auszutreiben, voller Verachtung auf sein Leben zu schauen. Übertrieben geläutert, belästigte er uns mit seinem Versagen; die Arbeit war umsonst gewesen, nichts als ein Bluff , ein Vor-sich-Hinschieben des Wesentlichen , ohne daß dessen Inhalt festgestanden hätte. Angeblich hatte er Mutter vernachlässigt und uns Kinder nie richtig geliebt ; so jedenfalls lauteten die Formeln seines verschmutzten Seelenlateins. Man durfte nicht darauf eingehen, diese Entblößung war selbst nur ein Teil seiner Krankheit, doch auf die Dauer wurde
man ungeduldig mit ihm und verwünschte seine Krisen, von denen eine der anderen so sehr ähnelte, daß sie allesamt unglaubwürdig wurden. Gerade diese finsteren Parallelen waren jedoch nach Auskunft des Therapeuten unbezweifelbare Kennzeichen des kritischen Zustands , und da solche Begriffe Eindruck machten, widmeten wir uns Vaters Botschaften dann doch immer von neuem.
Ich vermutete, er suchte nichts als einen Weg nach draußen, denn seit es mit ihm schlimmer geworden war, rief er mich häufiger an, mich, ausgerechnet mich, den er früher für einen Nichtsnutz gehalten hatte. Ich mußte ihm von meiner Arbeit erzählen, in solchen Momenten wurde sein Zutrauen kindlich, stumm hörte er zu, und ich ahnte, nur der Ton meiner Stimme beruhigte ihn, nicht was ich sagte. Dazu paßte, daß er nicht nachfragen konnte; ich erfand Monologe, tendenzgefärbte Berufsgeschichten, und er hatte dafür nichts als Verwunderung, aha, aha. Ja, so schlecht ist die Welt. Ich fühlte mich bei diesen Telephonaten dauernd gefoppt, denn er hielt mich nur hin, und ich fand keinen Einstieg in seinen inneren Krempel. Oft reagierte ich unwirsch, diese langen Kontakte verdarben die Arbeit, außerdem belegte er für Stunden die Leitung, nach meinem Auflegen jedoch besann ich mich meistens und rief ihn später unter einem Vorwand noch einmal an. Mutter behauptete, er blicke zu mir hoch , solch ein Geschwätz zeugte von ihrem Verrat. Er blickte nicht hoch, er suchte lediglich einen Punkt in der Ferne, illusionslos geworden, heimlich süchtig auf Veränderung und ein Leben ohne uns drei.
Ich hatte ihm dazu geraten, ich hatte ihm angeboten, ihm die Koffer zu packen und ihn zu bringen, wohin er es wünschte, doch er war kleinmütig geworden und klammerte
sich lieber an seinen aufgedunsenen Therapeuten, der ihn mit Drogen fütterte und Mutter lange die Hand hielt. Es war ein unaufrichtiger Typ, der alles entschärfte, ein distanzloser Schwachkopf mit unsauberen Junggesellenmanieren. Doch Mutter hielt seine Art für goldrichtig , denn sie hatte in ihm einen Berater gefunden, der selbst nachts noch gern telephonierte.
Vielleicht war Mutter die eigentlich Kranke, und sie hatte Vater nur angesteckt. Der Gedanke war mir häufig gekommen, aber ich behielt ihn für mich, da er nicht nachprüfbar war. Wenn Vater erschlaffte, blühte sie auf; sie hatte begonnen, alles über seine Krankheit zu lesen , und durch diese diffusen Lektüren war sie unschlagbar geworden, ein mittelloses, Diagnosen verteilendes Psychogehirn. Da sie mit Vater angeblich laufend beschäftigt war, hatte sie nun eine ständige Hilfe im Haus, die alle Arbeiten erledigte und den Provinztratsch mit Meldungen aus unserer Familie versorgte. Unser Haus hatte sich in ein psychosoziales Reha-Center
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