Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
einer Person in einer bedeutenden Beziehung plötzlich die Erfahrung, für das Gegenüber wertvoll zu sein, abhandenkommt. Dabei kann es sich um einen kleinen Verlust handeln, wenn zum Beispiel das Gegenüber dem, was du sagst, keine Aufmerksamkeit schenkt, oder wenn es dich nicht ernst nimmt. Aber es kann auch um einen großen Verlust gehen, wenn zum Beispiel der Partner nach zwanzig Jahren Ehe offenbart, dass er in den letzten drei Jahren eine Affäre hatte und sich scheiden lassen möchte. Im ersten Szenario wird die Person frustriert sein – eine Mischung von Traurigkeit und Wut wird sich bei ihr seelisch einstellen –, sie wird höchstwahrscheinlich mit einem kritischen Satz oder einer Anklage reagieren. Im zweiten Szenario fühlt sich die Person so, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggerissen, und ihre emotionale Antwort wird Wut, Zorn, Trauer und vielleicht sogar Hass enthalten (Hass ist nicht das Gegenteil von Liebe, sondern eine Funktion von Liebe!).
Im ersten Szenario geschieht es recht häufig, dass die involvierten Erwachsenen das Vorgefallene als unerheblich und unbedeutend, als belangloses Detail abtun. Das mag zutreffen, wenn so etwas selten passiert. Doch wenn sich der Vorfall oft wiederholt, verbirgt sich hinter dem belanglosen Detail eine bedeutende Botschaft. Das Hauptproblem ist meist, dass sich beide Parteien in ihrer Beziehung als wenig wertvoll füreinander erfahren. Ist ein Elternteil und ein Kind involviert, finden wir meist heraus, dass sich der Vater bzw. die Mutter in ihrer Rolle sehr unsicher fühlt, und darauf reagiert das Kind, indem es entsprechend insistiert, Grenzen testet, beharrlich sein Ding durchzieht, selbst wenn Vater bzw. Mutter etwas anderes wollen usw. So kommt es, dass wir sehr viele Menschen sagen hören: »Mein Kind geht mir immer auf die Nerven!«
Ich habe mich sehr oft gefragt, warum wir so sind. Warum werden wir aggressiv, wenn uns das Gefühl, wertvoll zu sein für jene, welche wir lieben, für unsere Kinder, unsere Klienten usw., abhandenkommt? Warum reagieren wir nicht mit einer Emotion, die in diesem Zusammenhang viel angebrachter wäre – mit Traurigkeit?
Es kommt sehr häufig vor, dass wir – nachdem der Wutausbruch vorbei ist – traurig werden. Dennoch scheint es so zu sein, dass wir zunächst unsere Kraft und Macht demonstrieren müssen, bevor wir uns verletzlich zeigen. Was auch immer der Grund für unsere erste aggressive Reaktion ist, wir offenbaren nicht: »Im Moment spüre ich, dass ich wertlos bin: Ich bin für dich und dein Leben unbedeutend.« Wir heben stattdessen das Scheitern des anderen hervor, und wenn der Vorfall damit endet, kann keine Entwicklung stattfinden.
Es gibt einen großen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern in diesem Zusammenhang. Wenn ich als Partner oder Elternteil das Gefühl, wertvoll zu sein, nicht mehr empfinde, ist das immer wahr – und zwar auch deshalb wahr, weil es mir nicht gelingt, für meinen Partner oder mein Kind so wertvoll zu sein, wie ich es gerne wäre. Das ist kein Mord und macht mich nicht schuldig. Es ist bloß ein weiterer Lernschritt: Ich werde aufgefordert, zu lernen, wie ich meine Liebe in liebevolles Verhalten verwandeln kann, so dass mein Partner oder mein Kind das in einem gegebenen Augenblick auch so empfindet.
Eltern scheinen in diesem Punkt sehr verletzlich zu sein, aus dem simplen Grund, weil es für uns alle wichtig ist, gute Eltern zu sein. Wir haben unsere Messlatte so hoch gesetzt, dass Frustration unvermeidlich geworden ist. In einem etwas weniger emotionalen Sinne gilt das genauso für Menschen, die von Berufs wegen versuchen, zu helfen, zu heilen oder zu erziehen. Wenn wir nicht erfolgreich sind, werden wir ebenfalls aggressiv, es sei denn, wir üben Selbstdisziplin. Dann kommt unsere Aggression weniger emotional aufgeladen rüber, und wir verwenden Begriffe wie »Widerstand«, »unzugänglich«, »sekundärer Gewinn« und »nicht motiviert«, um unser Scheitern oder die Situation zu beschreiben, in der unser Einsatz nicht so hilfreich war, wie wir es uns gewünscht hätten.
Wenn Kindern die Erfahrung abhandenkommt, wertvoll für ihre Eltern und Familie zu sein, sind sie aus zwei Gründen unschuldig. Zum einen: Wie ich weiter unten ausführen werde, können Kinder keine Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu ihren Eltern tragen. Sie können nur ihr Bestes tun, kooperieren und sich ins Familienganze einfügen. Wenn Eltern in ihrer Partnerschaft
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