Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
ernsthafte Schwierigkeiten haben – einschließlich vieler laut ausgetragener Konflikte –, wird bei zwei Kindern jedes seinen eigenen Weg finden, um zu kooperieren. Das erstgeborene Kind wird sich meist zurückhalten und anpassen, es wird versuchen, nicht weitere Schwierigkeiten zu verursachen und der Kampfzone fernzubleiben. Das jüngere Kind wird dazu neigen, »schwierig« zu sein, es wird die Aufmerksamkeit auf sich lenken und auf diese Weise den Konflikt zwischen den Erwachsenen zerstreuen wollen. Gewöhnlich wird das ältere Kind für sein Verhalten belohnt – das heißt, es wird sich als wertvoll empfinden –, während das jüngere Kind scharfe Kritik erntet und sich als weniger wertvoll erfährt. Es könnte allerdings auch sein, dass das ältere Kind sein aggressives Verhalten außerhalb der Familie ausagiert und das jüngere Kind introvertierter als gewöhnlich ist – oder umgekehrt. Das Leben ist nicht logisch: Es entfaltet sich in Bezug auf Phänomene und nicht in Bezug auf Fakten.
Zum anderen: Als Kleinkinder und Babys treffen Kinder keine bewusste Entscheidung bezüglich ihres Verhaltens – sie reagieren auf die Qualität der Beziehung zu ihren Eltern und auf die gesamte oder momentane Atmosphäre, die in der Familie herrscht. Wenn die beiden Kinder dann älter sind, wird ein Teil ihres Verhaltens das Ergebnis von bewussten Entscheidungen sein, trotzdem werden sie in einer gegebenen Situation meist so reagieren, wie sie können.
Wer ist verantwortlich?
In einer Beziehung zwischen Erwachsenen sind beide gleichermaßen verantwortlich für die Beziehung – dabei bitte ich, den Begriff verantwortlich zu beachten. Das heißt, beide sind dafür verantwortlich, die Richtung, in welche sich ihre Beziehung entwickelt, zu bestimmen, Fehler zu korrigieren oder neue und konstruktivere Wege des Miteinanders zu entdecken. So sind zwischenmenschliche Beziehungen beschaffen. Das bedeutet aber nicht, dass beide Seiten schuldig sind! Beide haben ihr vermeintlich Bestes für die Beziehung getan, und trotzdem kann eine Situation auftreten, in der beiden bewusst wird, dass sie nicht alles über sich wissen oder dass sich das, was sie bislang wussten, als falsch oder unvollständig herausstellt.
In der Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind ist der Erwachsene für die Beziehungsqualität immer hundertprozentig verantwortlich. Im gleichen Maße, in dem Kinder eine Beziehung beeinflussen, sind sie nicht in der Lage, für diese verantwortlich zu sein. Dieser Satz soll nicht als moralischer Aufruf zugunsten des schwächeren Teils verstanden werden. Er verweist lediglich auf eine der Begrenzungen der kindlichen Kompetenz. Die andere Begrenzung ist die Unfähigkeit, sich selbst zu versorgen – physisch, emotional und spirituell bis zum Alter von ungefähr zwölf Jahren.
Jenseits dieser Unfähigkeit gilt für zwischenmenschliche Beziehungen bei Kindern das Gesetz, dass die Frau oder der Mann, der die exekutive Macht innehat, immer auch für die Beziehungsqualität verantwortlich zeichnet. Dies ist kein moralischer Standpunkt, der auf Fairness beruht, sondern eine systemische Gegebenheit. In Organisationen wie in Familien bedeutet das: verantwortlich für die interne Kultur und Atmosphäre. Das gilt für jeden – egal, ob er Lehrer, Schulleiter, Sozialarbeiter, Parteivorsitzender, Postbeamter oder Erzieher ist. Du kannst wählen, diese spezielle Verantwortung anzuerkennen oder sie zu ignorieren, die Verantwortung jedoch bleibt – so oder so – deine. Sie kann weder delegiert noch demokratisiert werden.
Kinder sind »Opfer«
Ich verwende den Begriff »Opfer«, um hervorzuheben, dass Wohlergehen und Entwicklung eines Kindes gänzlich von dem Verhalten seiner Eltern abhängt sowie von der Atmosphäre, Kultur und emotionalen Resonanz, die die Eltern in der Familie als Ganzes zu kreieren vermögen. Großeltern, Erzieher und Lehrer spielen dabei auch eine bestimmte Rolle; sie sind nicht unwichtig, sie haben aber bei weitem nicht den grundlegenden Einfluss, den Eltern haben – zum Glück oder Unglück.
Wenn Kinder das Gefühl nicht mehr empfinden, wertvoll für ihre Eltern zu sein, reagieren sie mit Aggression. Ich möchte daran erinnern, wie verletzlich Kinder sind: Immer wenn etwas in der Familie schiefläuft oder in der Beziehung zwischen ihnen und den Eltern, fühlen sich Kinder schuldig – und schuldig bedeutet: nicht wertvoll. Das kommt vor, wenn Eltern einen Konflikt haben und miteinander streiten,
Weitere Kostenlose Bücher