Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
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Ich behaupte nicht, dass das generell den Kindern schadet, aber wir müssen mit regelmäßigen Frustrations- und Aggressionsausbrüchen rechnen und dürfen diese Ausbrüche keineswegs als »Fehlfunktionen« des einzelnen Kindes abstempeln. Selbst reife Erwachsene würden sich unter solchen Bedingungen anschnauzen, vielleicht sogar beißen. Das pädagogische Ziel des Personals sollte demnach nicht sein, Kinder einzuordnen und zu kategorisieren, sondern ihre klare Einladung – auch wenn sie noch so aggressiv ausgedrückt wird – anzunehmen.
Zu Beginn der institutionalisierten Tagesstätten trafen wir oft auf Kinder, die den Schmerz, den sie zu Hause erlitten, im Kindergarten auslebten. Heute begegnen wir Kindern, die ihre Frustrationen nach einem langen »Arbeitstag« in der Kindertagesstätte zu Hause ausagieren.
Frustrationen, Aggressionen und chaotische Ausbrüche seitens der Kinder sind systemische Reaktionen und sollten von deren primären erwachsenen Bezugspersonen als ein wertvolles Feedback betrachtet werden, ein Feedback, das ihnen die Kinder unter großen Leiden liefern. Vielleicht können Erwachsene diese Rückmeldung schwer entschlüsseln und verstehen, aber eins sollte ihnen klar sein: Kinder spielen damit keine Spielchen. Auch ist niemand zu beschuldigen, doch können Erwachsene die Verantwortung für die notwendigen Schritte in Richtung Veränderung tun.
Schule
Genauso wie bei den Kindertagesstätten gibt es wunderbare Schulen, aber auch viele schreckliche. Da in den meisten Ländern Schulpflicht herrscht, sich aber dort kaum einer Gedanken darüber macht, was Kinder ausmacht und zum Lernen bewegt, ist es von großem Vorteil, wenn Kinder das Schulgebäude mit einem gutem Selbstwertgefühl und viel Selbstvertrauen betreten. Das ist fast ein Imperativ für ihr soziales Überleben und bewirkt Wunder, wenn es um ihre Lern- und Studierfähigkeit geht.
Insbesondere in den beiden letzten Jahrzehnten haben viele Schulen über eine »disziplinarische Krise« geklagt, was nichts anderes ist als die Projektion einer pädagogischen Krise. Die Krise ist leicht zu verstehen, vergleicht man die Qualität der Erziehungs- und Bildungsarbeit von Lehrern mit der Tatsache, dass Kinder heute für sich selbst eintreten und immer mehr Eltern sich entscheiden, in Konfliktsituationen ihre Kinder zu unterstützen. Die reale Herausforderung für Lehrer heute ist keine intellektuelle: Lehrer müssen herausfinden, wie sie einen echten, wohlverdienten Respekt ernten.
Die alte Schulkultur hat ausgedient und ist auf allen Ebenen kontraproduktiv. Und obwohl es Tausende guter, kreativer und verantwortlicher Lehrer gibt, fangen auch sie an zu leiden. Mehr als andere Institutionen müssen unsere Schulen neu überdacht und nach einem neuen Paradigma wieder aufgebaut werden. [10] Solange sich nichts ändert, werden wir immer mehr Verlierer produzieren, und es wird sich immer mehr Aggression in den komplexen zwischenmenschlichen, schulischen Beziehungen ausbreiten, da sich jeder Beteiligte immer wertloser und wertloser fühlt. Es gehört zum Privileg der Lehrer, ihre Aggression auf ein intellektuelles und subtiles Niveau zu heben, und es ist das Schicksal der Kinder und Jugendlichen, sich eher in einer direkten und »primitiven« Art auszudrücken. Wenn wir mit dem Programm fortfahren, aus unseren Kindern und Jugendlichen Sündenböcke zu machen, stecken wir demnächst in einem ernsthaften moralischen und ethischen Dilemma, das uns unsere Glaubwürdigkeit nimmt – egal, ob wir Lehrer, Eltern, Schulleiter, Sozialpädagogen, Therapeuten oder Politiker sind.
Unsere Schulen und Kindertagesstätten verbindet leider eine unglückliche Tatsache: Den Kindern, die das meiste an Zuwendung brauchen, wird konsequent das wenigste geboten. Das heißt, genau die Kinder, die sich in ihrer Familie als wertlos empfinden, erhalten von ihren Erziehern und Lehrern genau dieselbe Botschaft. Ich habe vierzig Jahre in pädagogischen Institutionen verbracht, und während dieser Zeit haben wissenschaftliche Studien den Stand der Dinge aufgeklärt. Alles, was wir getan haben, ist, neue Kategorien zu erfinden, neue Spezialisten einzusetzen, neue Institutionen für Kinder mit »speziellen Bedürfnissen« zu gründen, neue Diagnosen und Methoden zu beschreiben – doch am Stand der Dinge hat sich nichts geändert. Wir geben so viel Geld aus wie nie zuvor, aber ohne einen realen, qualitativen Fortschritt zu verzeichnen. Dieselben Kinder stecken in derselben
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