Agrippina - Kaiserin von Rom
denn wer heutzutage überleben will, muss viel wissen.«
»So schlimm ist es?«, meinte Valerius resigniert.
»Eher noch schlimmer. Wir stehen erst am Anfang. Du hast gehört, was Petrus gesagt hat. Für uns werden Zeiten großer Drangsal kommen, unser Herr selbst hat sie uns prophezeit!«
Valerius stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Die herrlichen Gärten, die der große Schriftsteller Sallustius Crispus vor fast hundert Jahren erworben hatte und die in Rom an Schönheit ihresgleichen suchten, lagen in tiefer Dunkelheit und boten dem Betrachter nichts von ihrer üblichen Pracht. Rastlos ging Valerius auf und ab, während Horatius die Weinbecher nachfüllte. Abrupt blieb er stehen und fragte unvermittelt: »Teilt Agrippina Neros Bett?«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann räusperte sich Horatius.
»Die Antwort auf diese Frage will gut überlegt sein, denn Inzest zwischen Sohn und Mutter gehört nicht zu den Dingen, die einem Römer gefallen können, auch wenn die Sitten nicht mehr so streng sind wie zu Catos Zeiten.«
Wieder räusperte er sich geräuschvoll und blickte angestrengt in seinen Weinbecher, als könne er auf dem Boden des Bechers die Wahrheit entdecken.
»Gerüchte! Es sind nur Gerüchte, aber zu viele davon! Immerhin, wenn sie es tun, werden sie wohl kaum Zeugen bei sich dulden.«
»Aber die Leute singen es schon auf den Straßen, du hast es selbst gehört. Als ich bei Agrippina war und die Sprache darauf kam, war sie überaus empört und meinte, Poppaea Sabina habe diese widerwärtigen Gerüchte gestreut.«
»Das will nichts heißen. Agrippina ist eine begnadete Schauspielerin. Heute spielt sie die Empörte, morgen gibt sie die Kokette, je nachdem, was gerade gebraucht wird.«
»Was sind das für Gerüchte?«
»Du lässt nicht locker, edler Valerius, nicht wahr? Nun, das erste Mal, als ich davon gehört habe, war im Zusammenhang mit Neros Thronbesteigung.«
»Wieso?«
»Claudius war noch nicht ganz erkaltet, als Agrippina ihren Sohn schon zur Prätorianerkaserne bringen ließ, damit die Burschen dort ihren Eid auf den neuen Kaiser ableisten konnten.«
»Ist mir bekannt. Ja und?«
»Auf dem Weg dorthin soll sich Agrippina entkleidet haben und Neros Hände über ihren nackten Leib geführt haben, bis der junge Kaiser wieder und wieder ejakuliert hat. Die Flecken auf seiner Kleidung haben ihn verraten.«
Valerius schüttelte sich vor Abscheu. Zornig rief er aus: »Und wer bitte soll das bezeugen?«
»Postumius, einer der Träger. Er ist Christianus. Willst du ihn befragen?«
Valerius schüttelte den Kopf.
»Aber«, fuhr Horatius mit kalter Stimme fort, »das soll weder das erste noch das letzte Mal gewesen sein, dass es in der Sänfte zu Intimitäten zwischen Nero und seiner Mutter kam. Wie ich denke, übrigens gegen seinen Willen. Nicht umsonst hat er es später vorgezogen, entweder eine andere Sänfte zu benutzen oder neben der ihren einherzugehen wie ein Bittsteller. Auch sonst soll sie beiGelagen und Banketten, wenn das Blut des Imperators durch den Weingenuss schon genügend erhitzt war, sich ihm in eindeutiger Weise genähert haben. Gerne hat sie ihren schwellenden, unter den hauchdünnen Gewändern kaum verborgenen Busen dem Sohn zum Kuss geboten, und es ging so weit, dass Seneca, der alte Fuchs, Acte aus ihrem Exil sozusagen zurückholen ließ, damit die ihrem ehemaligen Geliebten klarmachte, welche Schande ein Inzest in römischen Augen ist und wie seine Soldaten darüber denken würden. Als Nero aber hörte, dass die Soldaten schon offen mit Gehorsamsverweigerung drohten, weil sie einem solchen Kaiser nicht folgen könnten, da kam er zur Besinnung und gab von da an seiner Mutter keine Gelegenheit mehr, ihn zu verführen.«
Horatius nahm einen der kleinen roten Äpfel und biss genießerisch hinein. Aufmerksam blickte er seinen Gast an und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Denn es gibt wohl keinen vernünftigen Zweifel: Es ging alles eindeutig von Agrippina aus. Vielleicht sah sie darin ein weiteres Mittel, um ihren Sohn an sich zu binden. Wer weiß, vielleicht ist der Hass gegen Poppaea nichts anderes als weibliche Eifersucht? Und überhaupt«, Horatius hatte sich jetzt in Rage geredet, seine Wangen begannen zu glühen und nahmen fast die Farbe der Äpfel in der Schale an, »was soll man von einer Frau halten, die ihren eigenen Onkel heiratet, nur um dem Sohn den Thron zu ermöglichen? Ist das nicht schon auch eine Form von Inzucht? Und auch mit ihrem
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