Agrippina - Kaiserin von Rom
Wohngebieten. Zum Zweiten konnte man einen Blick auf das Marstor werfen, das als einziges keine ständige Wache hatte. Die war auch eigentlich nicht nötig, denn die Pforte führte zu der Brücke, die auf die kleine Rheininsel mündete. Hier kam nur hin, wer vorher das Stadtgebiet durch eines der anderen Tore betreten hatte. Nachts war das Tor abgeschlossen, obwohl Kontrollen ergeben hatten, dass dies in letzter Zeit nachlässig gehandhabt wurde.
Die Statio verfügte neben dem Wachraum über einen Schlafraum, eine kleine Arrestzelle und ein winziges Dienstzimmer für den Leiter der Wache. In großen Städten wie Rom unterstanden die Vigiles natürlich einem Präfecten, aber hier in der Provinz war eben ein Tribun der Leiter der kleinen, neu geschaffenen Behörde.
Valerius hatte sein kleines Amtszimmer seit seiner Abreise nach Rom nicht mehr betreten. Jetzt stapelte sich auf dem winzigen Schreibtisch, der vor dem Fenster stand, eine Flut von Papieren. Jeden Tag musste der Wachführer einen Tagesbericht anfertigen. Die Berichte der letzten vier Wochen lagen unbearbeitet auf der einen Seite. Auf der anderen Seite, fein säuberlich getrennt und mit einem roten Band umhüllt, lagen die Anzeigen, die besorgte Einwohner auf der Statio eingereicht hatten. Hier wurde ein Mann vermisst, dort ein Einbruch gemeldet. Am Forum war ein reisender Kaufmann überfallen worden, in den Gassen hinter dem Capitolium entleerte jemand regelmäßig sein Nachtgeschirr auf die Straße, und in der Färbergasse wurde rote Farbe in den Abfluss geschüttet, was verboten war. Seit die Agrippinenser eine Polizei in ihren Mauern hatten, machten sie eifrig Gebrauch von der neuen Einrichtung, und eine neue Kultur unleidlicher Nachbarschaft begann zu erblühen: das Denunziantentum!
Valerius seufzte. Eigentlich hatte er sich nur ein paar Mann für die Durchsuchung des Landgutes holen wollen, aber dann hatte der Wachführer ihn auf diesen Schreibtisch aufmerksam gemacht.
»Muss warten!«, entschied Valerius und blickte auf die Wachrolle. Dreißig Vigiles umfasste seine Station insgesamt, von der ersten Nachtwache bis zur letzten waren sie in sechs Manipel zu je fünf Mann eingeteilt. Alle sechs Stunden wechselten sich die Einsatzgruppen ab, so dass jeweils zehn Mann pro Schicht in Dienst waren. Eine Einheit blieb in der Statio, die andere machte ihren Wachgang durch die Stadt. Ab der zehnten Stunde blieb nur ein Mann auf der Wache, und die Wachdienste wurden verstärkt. Das war nachts auch notwendig!
»Castus!«
Der Wachhabende kam herein und grüßte militärisch.
»Tribun!«
In den zurückliegenden Jahren hatte Valerius aus den Freiwilligen eine schlagkräftige Truppe geformt und sie militärisch gedrillt so gut es ging. Gut, es waren keine Prätorianer, aber sie waren willig, und Valerius hatte beim Quaestor sogar die Anschaffung einer einheitlichen Uniform durchgesetzt, die eine abenteuerliche Mischung aus Prätorianer, Legionär und Feuerwächter darstellte.
»Welcher Manipel hat Dienst, Castus?«
»Der fünfte ist hier, der sechste auf Streife, Tribun!«
» Bene, den fünften nehme ich mit, du bleibst auf der Wache. Sie sollen sich Pferde besorgen! In zehn Minuten Treffpunkt Westtor!«
»Zu Befehl, Tribun!«
***
Es war zwar keine imposante Heerschar, die sich da dem Landgut des verstorbenen Petrusius näherte, aber vier Mann können ein Haus ganz schön auf den Kopf stellen, und genau das hatten sie vor! Der alte Gallius, der Valerius bei seinem ersten Besuch empfangen hatte, unternahm gar nicht erst den Versuch eines Protestes, als die Truppe in den Hof stürmte.
»Ich beu... beuge mich der Staatsge... gewalt!«, hatte er pathetisch ausgerufen und sich eiligst in den hintersten Winkel des Gutes zurückgezogen.
»Zwei Mann in den ersten Stockwerk, zwei durchsuchen das Erdgeschoss!«
»Jawohl, Tribun! Äh ... wonach suchen wir genau?«
Valerius musste lächeln. Das hatte er ihnen noch gar nicht gesagt.
»Also, erstens suchen wir den Verwalter, einen gewissen Gulvenius!«
Es folgte eine genaue Beschreibung.
»Dann suchen wir nach allen Arten von Schriftstücken, die im Haus zu finden sind. Bringt sie mir hierhin, ich werde sie sichten.«
Die Männer machten sich an die Arbeit. Im gleichen Augenblick kam Silana die Treppe herunter – diesmal sittsam in eine blaue langärmelige Tunica gekleidet, um den Hals einen weißen Wollschal. Hätte Valerius nicht gewusst, dass es die Frau des Verwalters war, so hätte er sie vermutlich für
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