Ahnentanz
etwas Ungewöhnliches gehört habe? Ich bin nicht sicher.“
„Was haben Sie denn gehört?“
„Manchmal den Wind. Er klingt wie ein Wimmern, wenn er durch die alten Eichenbäume fährt. Geraschel – vielleicht auch vom Wind oder vielleicht von Eichhörnchen. Für das alles gibt es eine Erklärung, da bin ich sicher. Außer dann am Ende …“
„Was war am Ende?“
Er war ein guter Fragesteller, dachte sie. Seine Stimme klang jetzt sanft und ermutigend.
Sie nahm einen weiteren Schluck von ihrem Drink. „Ich schätze, ich hatte erst zum Ende hin richtig Angst.“ Sie zögerte einen langen Moment. „Sie können darüber lachen, wenn Sie wollen. Aber die meiste Zeit … fühlte ich mich völlig sicher auf der Plantage. Als ob sie … von der Vergangenheit beschützt würde, von einem guten Geist oder so etwas. Vielleicht liegt es nur an der Schönheit der Gegend, ich weiß es nicht. Aber zum Ende hin verunsicherte mich Amelia dann doch. Ich meine, nachts hat man auf der Plantage wirklich das Gefühl, mitten im Nirgendwo zu sein. Und obwohl ich mich in dem Haus eigentlichsicher fühlte, beschlich mich zunehmend ein Gefühl, als ob dort etwas … irgendwas Böses umging, ich aber sicher wäre, wenn ich mich ruhig verhielt und im Bett blieb. Vielleicht habe ich Dinge gehört, vielleicht auch nicht, aber jedenfalls schlief ich immer mit einem Baseballschläger an meinem Bett.“
„Sie hätten ein Gewehr gebraucht.“
„Na, das wäre ein Spaß gewesen. Ich kann nicht schießen.
Ich hätte mir oder Amelia eine Kugel in den Körper gejagt.“
Er lächelte. „Sie sollten das Schießen lernen – vor allem, wenn Sie noch weitere Zeit auf verfallenen Plantagen mitten im Nirgendwo verbringen wollen. Sie wissen, dass es dort noch viel Schlimmeres als Geister gibt. Echte lebende Monster.“
„Nun, ich habe nicht vor, in der Wildnis zu übernachten. Insofern ist es wohl in Ordnung, wenn ich keine Scharfschützin werde“, entgegnete sie.
„Machen Sie weiter. Erzählen Sie mir mehr über das Ende.“ Unwillkürlich schauderte Kendall. Sie hasste sich dafür, denn sie wusste, dass er jede ihrer Bewegungen registrierte. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie begann nur, mit Menschen zu sprechen, die ich nicht sehen konnte.“
„Und dabei sagte sie was?“
„Verschiedene Dinge zu verschiedenen Zeiten.“
„Erzählen Sie weiter.“
„Es klang so, als ob sie eine Geschichtsstunde gab. Sie sprach über den Wiederaufbau – nach dem Bürgerkrieg – und über den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg, Martin Luther King … alle möglichen Dinge. Sie sagte, wie stolz sie auf das alte Haus sei. Sie wirkte glücklich. Sie redete mit …“
„Geistern?“
„Ja, genau.“
„Aber sie bekam viel Morphium.“
„Sicher … Aber ich war am Ende nicht mit ihr allein, wissen Sie. Sie wollte nicht in einem Krankenhaus sterben. Sie war in dem Haus geboren, und dort wollte sie auch sterben. Aberich bin keine Pflegerin, weshalb ich eine examinierte Krankenschwester beauftragte, bei Amelia zu bleiben, als klar war, dass es auf das Ende zuging. Dennoch …“
„Was?“
„Sie war bewusstlos gewesen, schon im Koma, als sie plötzlich die Augen öffnete und sich aufsetzte. Sie sah mich direkt an und sagte Auf Wiedersehen und dass sie mich liebe. Dann streckte sie die Hand aus, als ob sie sie jemandem reichte – Sie werden mich nie überzeugen, dass sie nicht irgendetwas oder irgend jemand sah –, und dann sagte sie: ‚Es ist Zeit. Ich bin jetzt bereit.‘ Und dann starb sie.“
„Morphium“, sagte er sanft. Tatsächlich sagte er es in einem Ton, als wolle er sie beruhigen.
Sie erwiderte seinen Blick. „Sicher.“
Und dann fühlte sie sich plötzlich unbehaglich. Er stand einige Meter von ihr entfernt und bedrohte sie in keiner Weise. Im Gegenteil, er war extrem umgänglich, fast freundlich. Wollte er sie bei Laune halten? Vielleicht nicht. Er schien aufrichtig zu sein, und wenn er lächelte oder auch wenn er nachdenklich dreinblickte, wirkte er erstaunlich anziehend. Es mochte an seinem Selbstbewusstsein liegen, daran, dass er nicht einmal vorgab, sich um die Meinung anderer zu kümmern, sondern dass sie ihm wirklich egal war. Durch seine Größe und die breiten Schultern wirkte er von Natur aus eindrucksvoll, und die Schärfe seiner Gesichtszüge machte ihre konturierte Strenge noch faszinierender. Er strahlte eine kontrollierte Energie aus, die sie unwillkürlich sexuell anziehend fand.
Wieder fragte
Weitere Kostenlose Bücher