Ahnentanz
Gefühls nicht erwehren, dass es gelesen werden wollte.
Lächerlich. Menschen wollten andere Menschen dazu bringen, Bücher zu lesen, aber Bücher selber baten nicht darum, gelesen zu werden. Doch außer Aidan Flynn war in den letzten Tagen niemand in ihrem Apartment gewesen, und er hatte sich zu keinem Zeitpunkt allein in dem Zimmer befunden.
Und sosehr sie sich an dem Mann auch stieß, sie konnte sich nicht vorstellen, dass er in ihr Schlafzimmer geschlichen war, um ein Buch unter ihrer Bettdecke zu verstecken. Manchmal tat man etwas unbewusst. Also musste sie selbst das Buch aus dem Rucksack genommen und aus irgendeinem bizarren Grund in ihr Bett gelegt haben. Und dann hatte sie es vergessen. Eine simple und nachvollziehbare Erklärung. Sie musste über etwas anderes nachgedacht haben, als ihr einfiel, dass sie das Tagebuch noch nicht durchgelesen hatte, weshalb sie es geistesabwesend aus dem Rucksack genommen und aufs Bett geworfen hatte. Sie sollte sorgfältiger damit umgehen.
Das Tagebuch war bemerkenswert gut erhalten, doch immerhin mehr als hundertundfünfzig Jahre alt und vermutlich sehr kostbar.
Und es musste definitiv an die Erben zurückgegeben werden.
Aber nicht, bevor sie es nicht zu Ende gelesen hatte.
An diesem Morgen dankte sie Gott, dass sie nie vor zehn Uhr öffnete, dass Mason sich um alles kümmern konnte, bis sie auftauchte, und dass vermutlich nicht viel los sein würde, da es Mittwoch war. Wer ein langes Wochenende plante, fuhr normalerweise am Freitag oder auch schon am Donnerstag los. Oder sie blieben bis Montag oder sogar Dienstag. Der Mittwoch aber war normalerweise der langweiligste Tag der Woche. Wenn sie sich erst einmal zusammengerissen hatte und dort war, konnte sie sich vielleicht einen Tee machen, an einem Gebäckstück herumknabbern und den ganzen Tag im Hinterzimmer lesen. Nicht gerade gut für den Umsatz, aber für heute war das in Ordnung.
Sie wickelte das Tagebuch in einen Schutzumschlag, den ein Künstler genäht hatte, packte es in ihre große Tasche und verließ das Apartment.
Als sie im Laden ankam, steckte Mason mitten in der Arbeit. Überall lagen Kartons herum.
„Halloween“, sagte er fröhlich, als sie eintrat. Dann hielt er inne und sah sie prüfend an. „Kaffee habe ich aufgesetzt. Du siehst aus wie ausgespuckt.“
„Vielen Dank auch.“
„Stimmt aber.“
„Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen.“
„Ein Kater?“, neckte er sie.
„Wenn ich einen Kater hätte, wäre es deine Schuld. Aber tatsächlich habe ich nur einfach nicht geschlafen.“
„Der Kaffee wird helfen“, sagte er. „Wir müssen diese ganzen Sachen verteilen. Wir sind spät dran mit der Dekoration.“So viel zu ihrem Vorhaben, den Tag mit Lesen und Entspannen zu verbringen.
Sie waren tatsächlich spät dran. Selbst mit Vinnies Hilfe konnte Mason nicht alles schaffen, und sie war so oft weg gewesen während Amelias Krankheit. Obwohl die Freundin vor mehreren Monaten gestorben war, hatte Kendall noch immer das Gefühl, allem hinterherzuhinken.
„Kaffee“, sagte Mason und reichte ihr einen Becher.
Tee mochte die Spezialität des Ladens sein, doch sie führten auch aromatisierte Kaffees, und Mason hatte ihn so gekocht, wie sie ihn brauchte: stark.
Sie nippte daran, während sie zusah, wie er ein lebensgroßes Skelett mit Piratenhut und einem echt aussehenden Plastikschwert auspackte. „Neben die Tür“, sagte sie.
„Eindeutig“, stimmte er zu.
Sie trank den Kaffee aus, und mit den wieder erwachten Lebensgeistern wuchs ihre Lust, die Kartons mit Dekorationsartikeln zu sichten. Sie setzte sich auf den Boden und machte sich an die Arbeit. Innerhalb kurzer Zeit war der Laden bereit für Halloween, wobei sie einige der normalen Artikel aus den Regalen wegpacken mussten, um Platz für die Saisonartikel zu schaffen.
Eine Stunde später stattete Vinnie ihnen einen Besuch ab. Er grinste und sah Kendall an, als hätte er einen Lotteriegewinn für sie arrangiert.
„Und?“, wollte er wissen.
„Nun, die Überraschung ist dir gelungen“, sagte sie.
„Kendall, du warst großartig. Alle wollen dich wieder singen hören.“
„Vinnie, ich hätte dich umbringen können. Wir haben das vor mindestens zehn Jahren geschrieben. Und meinst du nicht, du hättest mich vorher fragen können, ob ich mitmachen will?“
„Wenn ich gefragt hätte, hättest du Nein gesagt. Du solltest anfangen, mit der Band zu arbeiten. Und was ist mit deinemCollegetraum, ein Laientheater zu gründen?“,
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