Ahnentanz
überrascht, dass sie noch nicht aufgestanden und hinausgestürmt war. Doch sie starrte ihn nur aus weit aufgerissenen Augen an, das Gesicht aschfahl.
„Was macht Sie so sicher, dass es von diesem Mädchen stammt?“
„Ich bin mir keineswegs sicher.“
Sie sah hinunter auf das Bild und fuhr gedankenverloren mit den Fingerspitzen darüber. Einen kurzen Moment fürchtete er, sie würde anfangen zu weinen. Sie war offenbar erschüttert. Er legte eine Hand auf ihre. „Kendall, was ist denn nur los?“
„Sie war sehr liebenswürdig“, sagte sie.
Sie wollte ihre Hand fortziehen, doch er hielt sie fest.
Sie schüttelte den Kopf. „Wenn ich es Ihnen erzähle, werden Sie mir nicht glauben.“
„Versuchen Sie’s.“
„Damit Sie noch mehr auf mich herabsehen können?“, fragte sie bitter.
„Ich sehe nicht auf Sie herab.“ Okay, das war gelogen, zumindest ein kleines bisschen. Aber herrje, es hatte nun mal den Eindruck gemacht, als ob sie eine gebrechliche alte Dame ausnahm. Und er hatte ein Problem mit Leuten, die sich mit diesem spiritistischen Hokuspokus abgaben, ob sie nun daran glaubten oder nicht.
„Okay, ich bin ein skeptischer Mensch“, gab er zu.
„Ich glaube, ich sollte gehen“, sagte sie.
„Bitte, bleiben Sie. Helfen Sie mir. Ich weiß, dass ich im Dunkeln tappe.“
Sie sah ihn forschend an, ob er es wirklich ernst meinte.
Seine Hand lag noch immer auf der ihren, und er hoffte aufrichtig, dass sie nicht gehen würde.
„Bitte“, wiederholte er.
„Wenn Sie mich auslachen, dann, schwöre ich, werde ich nie wieder mit Ihnen sprechen“, sagte sie. Und meinte es so. Das sah er ihr an.
„Ich finde nichts an dem Fall Jenny Trent zum Lachen“, sagte er.
Sie senkte den Blick und sah hinunter auf den Tisch. „Da geschah etwas Merkwürdiges, als ich ihr aus den Karten lesen wollte …“ Sie blickte wieder auf. Sie wirkte jetzt größer, schien sehr aufrecht zu sitzen. „Tatsächlich glaube ich selbst nicht an übersinnliche Kräfte. Ja, ich lese in meinen Sitzungen aus der Hand, aus Teeblättern oder Kaffeesatz. Gute Sitzungen, wie ich glaube. Aber ich habe meinen Abschluss in Psychologie und Kunstwissenschaft gemacht. Ein Lehrer hat mir beigebracht, dass man für Unterhaltung sein Publikum kennen muss, und genau das hat mich die Psychologie gelehrt. Dann tauchte der Laden auf, und ich war sicher, dass ich daraus ein Geschäft machen könnte. Doch ich habe niemals geglaubt, dass ich irgendjemandem durch Handlesen oder durch den Blick in die Kristallkugel seine Zukunft vorhersagen könnte. Eines aber wusste ich – dass die Präsentation über Wohl und Wehe einer Show entscheidet, und Hellsehersitzungen sind eine Art von Show.“
Während ihres Vortrags ertappte er sich bei dem Wunsch, ihr über die Wange zu streichen und ihr zu versichern, dass alles in Ordnung sei, dass sie alles richtig gemacht hätte. Nur wusste er noch immer nicht, worauf sie hinauswollte.
„Ich verstehe“, sagte er, doch in Wahrheit verstand er überhaupt nichts.
Sie atmete tief ein. „Es ist ein paarmal vorgekommen, dass etwas wirklich Merkwürdiges geschah. Und eines dieser Male war bei Jenny Trent.“
„Kendall, was ist passiert?“
„Tarotkarten haben mehr Bedeutungen, als Sie sich überhaupt vorstellen können. Eine gute Kartenleserin sollte ein Gespür dafür haben, welche dieser Bedeutungen für ihren jeweiligen Klienten eine Rolle spielen könnte.“ Sie atmete noch einmal tief ein. „Was ich damit sagen will, ist, dass sie ein wirklich gutes Werkzeug für … ja, für einen Psychologen darstellen, für eine bestimmte Art zuzuhören und dann bestimmte Lebensaspekte anzusprechen, die jemand vielleicht verdrängen will. Jede Karte kann viele Dinge bedeuten. Die Todeskarte bedeutet nicht Tod. Jedenfalls normalerweise nicht. Sie bedeutet Veränderung.“
Er sah sie an, nagelte sie mit seinem Blick förmlich fest. „Und Sie zogen die Todeskarte für Jenny Trent? Sie … Sie sahen den Tod für sie?“
„Ja und nein.“ Sie seufzte und fuhr fort: „Ich erklärte ja gerade, dass die Karten alles Mögliche bedeuten können. Dass die Todeskarte nicht tatsächlich den Tod bedeutet. Sie weist auf das Ende von etwas hin. Je nachdem welche Karte noch auftaucht, kann es ein wichtiger Umbruch sein, das Ende einer Beziehung. Doch die Karte gehört in das Grundkonzept, dass mit dem Schließen der einen Tür sich eine andere öffnet.“
„Warum waren Sie dann beunruhigt, als die Karte bei Jenny Trent
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