Ahnentanz
Kendall war anders. Er kannte ihren Namen nur zu gut. Er tauchte oft in seinen Gedanken auf. Er kannte ihre Augen, und er lernte allmählich auch ihre Stimmungen, ihr Lächeln, sogar ihr Lachen kennen. Ihren Unmut, ihren Gerechtigkeitssinn, ihren Stolz. Er kannte all diese Dinge und wusste, dass sie ihn verzauberten. Und er wusste, dass die Weichheit ihrer Haut, die Kurven ihres Körpers und der Seidenglanz ihres Haares ihn ebenso verzauberten.
Was zum Teufel war hier eigentlich los? Ja, er kannte ihren Namen, und sie kannte seinen. Scheiß drauf. Warum sollte es für ihn nicht das sein, was es sonst gewesen war, und für sie eine rasche, rein körperliche Affäre? Die Anziehung war da: die Chemie, die Lust, was auch immer. Bring es hinter dich. Und geh dann.
Nie war er mehr versucht gewesen, einfach einen Schritt vorzutreten und die Frau in seine Arme zu ziehen. In einem besinnungslosen Rausch jeden Teil von ihr zu erkunden und die Nacht in einem Durcheinander von Laken und nackter Haut zu verbringen.
Nein. Er kannte ihren Namen zu gut. Und das änderte alles. Er trat zurück. „Gute Nacht. Und danke.“
„Ich danke.“Sie blickte ihm einen Moment in die Augen.
Und in diesem Augenblick war er überzeugt, dass sie das Gleiche dachte wie er.
Doch der Moment verstrich.
Sie trat zurück und schloss die Tür. Und er ging Richtung Bourbon Street.
Kendalls Wangen waren hochrot. Sie drückte ihre Handflächen dagegen. Wenn er noch eine Sekunde länger dort stehen geblieben wäre, hätte sie ihn hereingezogen.
Weil sie nicht allein sein wollte.
Und mehr noch: weil sie sich nicht daran erinnern konnte, jemals jemanden so sehr begehrt zu haben.
Sie war eine Idiotin. Es war dumm gewesen, ihm von der Sitzung zu erzählen. Schlimmer noch, es war idiotisch, sich überhaupt in seiner Nähe aufzuhalten. Sie hätte lieber ihrem ersten Eindruck vertrauen sollen.
Es spielte keine Rolle. Was ihr an ihm gefiel, was ihr nicht gefiel, das Gute, das Schlechte, das alles erzeugte eine Anziehung, die an Peinlichkeit grenzte. Sie wollte mit ihm schlafen.
Obwohl er zweifellos glaubte, dass sie verrückt war.
Nicht einmal das spielte eine Rolle. Es war, als ob sie einen Hauch seiner Energie um sich spürte, als ob sie noch immer seinen Duft einsog – irgendwas Holziges und Unwiderstehliches, das ihr nachhing und den Wunsch in ihr weckte, ihm nachzulaufen und ihn freundlich, aber bestimmt zum Sex einzuladen, so wie sie ihn zu einem Kaffee hätte einladen können.
Jezebel miaute und strich ihr um die Beine. Abwesend nahm sie die Katze auf den Arm.
Sie konnte nicht glauben, dass sie ihm von der Tarotkarte erzählt hatte.
Jenny Trents Tarotkarte.
Der Tod, der zum Leben erwachte.
So wie es heute wieder geschehen war. Bei Ann. Das hübschekleine Ding, das morgen auf eine Schiffsreise ging. Das Mädchen, das jetzt zweifellos irgendwo da draußen herumlief, mit ihren Freundinnen feierte und sich keiner Gefahr bewusst war.
Kendall hatte keine Ahnung, was sie ihr überhaupt sagen sollte, falls sie sie fand. Und es gab so viele Orte, an denen sie sein konnte.
Nein, es gab nur einen Ort, wo Touristen das frühere Big-Easy-Feeling suchten.
Kendall setzte die Katze ab, verließ ihr Apartment und machte sich auf den Weg in die Bourbon Street.
Dieses E-Book wurde von der "Osiandersche Buchhandlung GmbH" generiert. ©2012
10. KAPITEL
Es war kurz nach zehn, als Aidan die Bar betrat. Die frühen Besucher waren zum großen Teil schon gegangen.
Doch es war noch immer viel los, da nun die Nachtschwärmer in voller Stärke hereinströmten. Einige von ihnen trugen Namensschilder, die sie als Mitglied einer Reisegruppe auswiesen, die morgen früh mit einem Kreuzfahrtschiff ablegen würde. Aidan war froh, sie hier zu sehen; er wusste, dass die wirtschaftliche Lage der Stadt davon abhing, dass ebensolche Passagiere vor oder nach ihrer Kreuzfahrt in die Karibik einen Halt in New Orleans machten.
Jeremy hielt sich an der Bar auf, als Aidan hereinkam. Er stand an dem einen Ende gegen die Wand gelehnt, sodass er alles im Blick hatte. Als er Aidan sah, deutete er auf einen leeren Tisch in der Nähe, von dem aus man ebenfalls das Kommen und Gehen beobachten konnte.
Der Einzige, den Aidan im Moment in der Bar sonst noch kannte, war Vinnie, der sich auf der Bühne die Seele aus dem Leib spielte.
„Wie war das Dinner?“, fragte Jeremy, als sie sich hingesetzt hatten.
„Gut. Kendall hat sich an Jenny Trent erinnert.“ Er sagte nichts von
Weitere Kostenlose Bücher