Ahnentanz
Ruhigerem, und für den Fall, dass die Elektrizität während der Neuverkabelung ausfiel, hatte er eine Taschenlampe dabei.
Er kam gegen Sonnenuntergang an. Trotz aller Schubkarren, Zementsäcke und anderer Utensilien, die überall herumstanden, wirkte das Haus auf seiner kleinen Anhöhe über dem Fluss wunderschön. Das letzte Sonnenlicht verbarg die abblätternde Farbe und die Stellen, wo Stuck und Putz kürzlich erneuert worden waren. Das Haus wirkte wie eine elegante alte Dame.
Er parkte in der gekiesten Auffahrt und ging um das Haus herum. Die Arbeiter waren gründlich gewesen und hatten dieFenster und Türen zum Feierabend alle verschlossen.
Er wollte gerade seinen Schlüssel nehmen und die Haustür öffnen, als sein Blick über das Grundstück und durch die Bäume zum Friedhof fiel.
Kurz vor der Dämmerung strahlte der Ort etwas Faszinierendes, Verlorenes aus. Statt das Haus zu betreten, ging Aidan in Richtung Friedhof.
Die Familie hatte ihn als wohltuende Oase angelegt. Die Bäume bildeten eine Grenze, die die Lebenden draußen und die Toten drinnen hielt. Es war jene Art von Grenze, die den Ort anziehend machte. Als er den Friedhof betrat, konnte er dennoch spüren, dass dies ein Ort der Einsamkeit und der Verwahrlosung war. Es gab Steine und Grabplatten, die man nicht mehr entziffern konnte, und sogar viele der jüngeren Grabsteine trugen Inschriften, die vom Zahn der Zeit fast ausgelöscht waren.
Hohes Gras und Unkraut wucherten ungehindert, und die moosüberzogenen Bäume verliehen der Szenerie ein zusätzliches bittersüßes Pathos. Er schätzte die Entfernung vom Friedhof zum Haus und zu den Außengebäuden ab.
An der Rückseite des Hauses verlief der Fluss entlang der parallelen Baumreihe, die einst zu einem prachtvollen Hintereingang geführt hatte. Vielleicht hatte man ihn sogar einmal als Haupteingang angelegt, da die meisten Besucher wohl vom Fluss aus gekommen waren. Das Haus thronte auf dem kleinen Hügel, während sich das Land, den Friedhof eingeschlossen, bis zum Fluss hinab erstreckte.
Es war nicht so unwahrscheinlich, dass ein Sturm Erde, Zweige, Unrat und sogar menschliche Knochen vom Friedhof zum Fluss beförderte hatte – direkt an den Sklavenquartieren und den anderen Außengebäuden vorbei.
Aidan setzte sich auf einen der Grabsteine und ließ seinen Blick über das Reich der Toten schweifen. Während er sich umsah, ertappte er sich dabei, wie er den Boden musterte.
Es machte nicht den Eindruck, als ob eines der Gräber hier angetastet war. Sicher, vielleicht war eines durch Katrina offengelegt worden, und dann hatten neuer Sturm und Regen wieder alles verdeckt.
Dennoch …
Er sah zu dem größten der Familienmausoleen, schlenderte hinüber und betrat es. Er musterte die frische Inschrift, die die letzte Ruhestätte von Amelia Jeanine Flynn markierte. Er berührte den Stein. „Du musst eine tolle Frau gewesen sein“, sagte er. „Wenn Kendall dir so ergeben war … Ich wünschte, ich hätte dich kennengelernt.“
Als er bemerkte, dass er laut gesprochen hatte, schüttelte er amüsiert den Kopf. Immerhin war er allein auf einem Familienfriedhof, der von etwa sechs Hektar größtenteils verlassenem Gelände umgeben war. Es gab nicht einmal ein Auto, das draußen auf der Straße vorbeifuhr.
Er verließ das Mausoleum wieder und suchte auf dem Friedhof weiter nach einem Hinweis, warum etwas nicht in Ordnung schien. Doch sosehr er sich auch bemühte, er entdeckte nichts Ungewöhnliches.
Es war dunkel, als er den Friedhof verließ und das Tor hinter ihm zufiel. Es machte kein Geräusch. Jemand hatte es geölt, und zwar vor Kurzem. Er wandte sich um, um noch einen Blick auf die Gräber zu werfen.
Im fahlen Mondlicht war kaum etwas zu erkennen.
Noch immer überzeugt, dass vor ihm etwas lag, das er einfach nicht sah, ging Aidan zurück zum Haus. Er schloss die Tür auf und trat ein. Er schaltete ein paar Lampen an und ging in die Küche. Angenehm überrascht entdeckte er, dass einer seiner Brüder einkaufen gewesen war. Der Kühlschrank bot das Notwendigste: Limonade, Wasser, Bier, Käse und Schinken. Auf dem Tresen lag Brot. Er machte sich ein Sandwich, ging danach hinaus zum Wagen und holte seine Taschen.
Einen Teil des Abends verbrachte er damit, im Erdgeschossdie Fenster zu kontrollieren, die alle verschlossen waren und gut funktionierten, ebenso wie die Schlösser an den Türen.
Nur zwei Türen führten in das Haus, an der nördlichen und an der südlichen Seite, und
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