Ahoi Polaroid
Kellner guckte ihnen nach und fürchtete schon um seine Schanklizenz. Er wollte ihnen auch nicht eine einzige Flasche des gelblich-öligen Linie-Aquavits mit auf den Weg geben. Trotz intensivem Bitten und Betteln der beiden, trotz des Angebots einer nicht unbeträchtlichen Summe. Vermutlich hätten sie ihm das ganze Geldscheinbündel unterm Rollstuhl anbieten können. Er wäre standhaft geblieben.
»Da sieht man mal wieder, wohin Restriktion führt«, sagte Vinzi. »Paragrafen, Gesetze und der ganze Scheiß!« Plotek nickte. Er schob den Rollstuhl und hielt sich gleichzeitig daran fest.
Vom Hafen hörten die beiden das Signalhorn von der abfahrtbereiten MS Finnmarken.
»Gib Gas!«, schrie Vinzi. Plotek beschleunigte. Der Hund tänzelte hinterher, als wäre er der Protagonist eines modernen Ausdruckstanzes von Pina Bauschs Gnaden. Er sah aus, als wollte er sich dabei selbst überholen.
Am Hafen angekommen, fragte Plotek: »Was ist jetzt mit dem Köter?«
Als ob er den Hund schon lange vergessen hätte, antwortete Vinzi: »Ach so, ja, verdammt!« Er dachte kurz nach. »Gib mir mal deine Sporttasche.«
Vinzi öffnete sie. Er nahm ein paar Socken, Hemden und Unterhosen heraus und stopfte sie in seinen Beutel. Dann hielt er die Sporttasche mit dem Weltmeisterschaftsmaskottchen Tip & Tap von 1974 auf und sagte zu dem Hund: »Na, komm schon!« Der zögerte. »Willst du nun mit oder nicht?«, herrschte Vinzi ihn an. Als würde er jedes Wort verstehen, legte der Hund den Kopf schief und guckte, als dächte er jetzt nach.
»Also, was ist jetzt?!«
Mit einem Satz sprang das Tier in die Sporttasche. Vinzi zog den Reißverschluss fast ganz zu, so dass vom Inhalt der Tasche nichts mehr zu sehen war. »Und schön Klappe halten, klar?«
Es war nichts zu hören. »Na also, geht doch!« Er stellte die Tasche auf seinen Schoß. Den Beutel hängte sich Plotek um die Schulter.
»Gehen wir.«
»Gehen wir.«
Vor der geöffneten Laderampe der MS Finnmarken hielten sie abrupt an. »Kneif mich mal!«, sagte Vinzi, legte den Kopf schräg in den Nacken und blickte an der Außenwand des Schiffes entlang nach oben. »Das kann doch nicht sein, oder?«
Jetzt sah auch Plotek hoch zum obersten Achterdeck und erkannte backbord das, was Vinzi in Erstaunen versetzte. Da oben stand jemand über die Reling gebeugt und schaute herunter. Es war eine Frau. Sie hatte blonde Haare und sah aus wie . . .
»Ich werd verrückt!«, stammelte Plotek. »Das ist. . .«
»Die Leiche!«
»Uma Thurman.«
»In Blond.«
»Zumindest sieht sie so aus.«
»Haargenau sogar.«
»Kneif mich auch«, bat Plotek.
Der Alkohol. Eine Halluzination. Eine Verwechslung. Oder schlicht und ergreifend eine exakte Ähnlichkeit, die die ganz in Weiß gekleidete Frau an der Reling mit der Toten im Zug verband. Plotek und Vinzi schauten sich fragend an. In beiden Gesichtern lag ein ähnlicher Ausdruck. Eine Mischung aus Verwunderung, Skepsis und Ungläubigkeit.
»Entweder wiederauferstanden. . .«, befand Vinzi.
»Oder Zwilling!«, ergänzte Plotek.
»Oder die echte Uma Thurman.«
»Blond gefärbt.«
Oder nichts von alledem. Als sie nämlich ein weiteres Mal nach oben blickten, war die Person verschwunden. Als wäre sie nie da gewesen. Die Tasche winselte.
»Halt’s Maul!« Vinzi gab ihr einen Klaps. Danach war Ruhe.
Die nächste Überraschung erwartete die beiden nach dem Betreten des Schiffes. Ein Aufzug. Ein gläserner, imposanter Aufzug verband die Decks miteinander und ließ Ploteks Mund, vor allem aber den von Vinzi, vor Staunen offen stehen. »Das ist ja wie zu Hause!« Er lachte und bekam glänzende Augen.
Jetzt muss man wissen, dass Vinzi an der Außenwand seines Zweifamilienhauses in Lauterbach auf der Schwäbischen Alb einen eben solchen gläsernen Aufzug hatte anbringen lassen. Natürlich nicht so schmuckvoll wie der auf der MS Finnmarken. Aber immerhin.
Die Außenkabine auf Deck 5 dagegen war eher eine Enttäuschung. Nicht nur dass sie für zwei erwachsene Männer, selbst wenn dem einen die Beine bis zur Hälfte fehlten, ziemlich klein geraten schien. Auch der Komfort hielt sich in Grenzen. Da war nichts von dem Luxus zu spüren, den der Aufzug, das Atrium, überhaupt das ganze Ambiente des Schiffes vermuten ließen. Eher Durchschnitt. Bescheidener Standard. Der Pragmatismus übernahm bei der Einrichtung im Art-déco-Stil offenbar die Federführung. Zwei Betten, kleiner Schreibtisch, Stuhl. Schrank, Fernseher, Kühlschrank. Klo, Waschbecken, Dusche.
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