Ahoi Polaroid
Astronomieleidenschaft, Vinzis Hoffnung auf Intimkontakt mit Swantje . . . Alles geriet in seinem Kopf durcheinander. Vermischte sich und hielt ihn wach.
In der Kabine war es stockfinster. Zu dunkel, um einzuschlafen, dachte Plotek. Er konnte noch nie in völlig abgedunkelten Räumen schlafen. Da kam er sich immer wie im Sarg vor. Wer will das schon? Er zog den Vorhang vor dem runden Kabinenfenster langsam zur Seite, um immerhin ein wenig Licht von draußen in die Kabine dringen zu lassen.
Kaum war der Vorhang auf, erstarrte er. Er schrie. Kurz und heftig. Für einen Moment blickte er in ein Gesicht. Ein verzerrtes Gesicht. Es sah aus wie eine Maske. Er zog den Vorhang schnell wieder zu. Sein Herz raste. Er überlegte. Was war das? Ein übler Scherz? Ein Versehen?
Nach ungefähr einer Minute zog er den Vorhang noch einmal zur Seite. Langsam. Und Überraschung: Nichts war zu sehen. Außer ihm selbst. Schemenhaft in der Scheibe gespiegelt.
Sollte er sich das alles nur eingebildet haben? Plotek schüttelte den Kopf. Da war was gewesen. Ein Gesicht. Oder etwas Ähnliches. Hundertprozentig!
»Ich bin doch nicht blöd«, murmelte er vor sich hin und drehte sich auf die Seite. Da sah er die vier Pralinen von Eschenbach wie Augen auf dem Bord neben dem Bett liegen.
Nicht viel später schlief er ein.
5
»Kabinenservice. Frühstück!« Eine junge, männliche Stimme, ein wenig gehetzt.
Und drei kurze Klopfzeichen an der Kabinentür. Sie klangen wie dumpfe Pistolenschüsse. Plotek war sofort wach. Er hatte nicht gut geschlafen. Er war verkatert und hatte extreme Kopfschmerzen. Außerdem war ihm wieder übel. Es sah ganz so aus, als wäre er nicht fürs Schiff und das Meer geschaffen. Fürs Reisen an sich. Im Prinzip einfach nicht für die Welt außerhalb seiner Lieblingsgaststätte Froh und Munter in München. Plotek war ein überzeugter Stubenhocker. Ein notorischer Daheimbleiber. Ein bekennender Reisemuffel. Einer, der lieber sein Leben mit einem Weißbier auf einem Barhocker in München verbrachte als mit einem Model in einer Corvette auf Mallorca. Einer, der lieber in den Schaum eines Weißbiers guckte als in die Augen einer Schönheit. Wenn sich so einer dann plötzlich in einer engen Schiffskabine bei schlechter Luft Tausende Kilometer vom Froh und Munter -Tresen entfernt in einem zu kleinen Bett auf den Weltmeeren wiederfand, hatte das natürlich seine Auswirkungen. Schwerwiegende sogar. Obgleich die MS Finnmarken kaum schaukelte, hatte er ständig ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
»Hast du Frühstück bestellt?«, fragte er Vinzi vom Bett aus.
»Hmm.«
Vinzi schien erst langsam wach zu werden. Auch der Hund dämmerte unter dem Schreibtisch weiter vor sich hin, ohne sich zu regen. Plotek lag noch ein paar Minuten auf dem Rücken im Bett. Er starrte zur Decke und dachte an. . . Agnes. Zuerst an die Liebenswerte, die Herzerfrischende, die Eloquente und Humorvolle – für Sekunden. Dann an die Ambivalente. Zuletzt an die Prügelnde. Ziemlich lange. Obgleich er sich seit der Schlägerei verboten hatte, an sie zu denken, tauchte sie immer wieder in seinen Hemisphären auf. Meistens in den Träumen. Oder kurz nach dem Aufwachen. Wie jetzt. Sicher hatte es auch damit zu tun, dass seine Rippen schmerzten. Dass das Auge zwar fast abgeschwollen war, aber farblich nach wie vor an Kinderfasching erinnerte. Um nicht noch tiefer im schmerzhaften Erinnerungsstrudel zu versinken, zog Plotek den Vorhang vorm Bullauge ganz zur Seite. Draußen war es bereits hell. Das Licht blendete. Er hielt die Hand schützend vor die Augen und sah hinaus. Vinzi brummte. Der Hund winselte. Den beiden schien die helle Kabine auch nicht zu behagen. Am Horizont war nichts zu sehen außer einer Bergkette. Wie hingemalt. Schön, hätte Plotek denken können. Dachte er aber nicht. Er dachte, nachdem vor dem Fenster dumpfe Stimmen zu hören waren, dass die besonders engagierten Passagiere offenbar schon auf den Beinen waren. In seine Gedanken schmuggelte sich eine Spur Verachtung hinein. Dann Herlinde Vogler-Huth. Er überlegte, was sie in seiner Situation sagen würde. Lange brauchte er nicht zu überlegen. »Ich bin so unleidlich«, murmelte Plotek vor sich hin.
»Ich auch«, kam es zurück wie ein verunglücktes Echo. Es war Vinzi, der sich auf seinem zum Bett aufgeklappten
Sofa hin und her wälzte. Wobei es jedes Mal knarrte wie eine alte Schranktür.
Schließlich stand Plotek auf und tastete sich in Unterhose und Unterhemd durch die
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