Ahoi Polaroid
Fotoapparat vor den Augen die Erker und Giebel fixierte, was das Zeug hielt. Er nickte innerlich und dachte: Nichts wie weg.
»Das ist aber eine Überraschung.« Herlinde Vogler-Huth stoppte die beiden wie eine Grenzbeamtin an der ehemaligen deutsch-deutschen Zonengrenze, die immer auf der Suche nach Republikflüchtlingen ist. Plotek nickte.
»Sagen Sie bloß, Sie interessieren sich für Jugendstil!« Vogler-Huths Überraschung schien sich zu überschlagen. Noch ehe einer der beiden etwas sagen konnte, quasselte sie schon weiter. »Ich liebe den Jugendstil.« Sie schürzte die Lippen und warf eine Kusshand hoch zum Erker.
»Schauen Sie sich das an. Ist das nicht herrlich. Dieser Schwung der Ornamentik.«
Sie fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und zeigte dabei auf die Häuser am Straßenrand, als wäre sie Herbert von Karajan.
»Es gibt nichts Eindrucksvolleres als den Jugendstil. Höchstens noch den frühen Expressionismus.«
»Kirchner«, bemerkte Vinzi knapp, um Herlinde Vogler-Huth zu stoppen.
»Ernst Ludwig«, ergänzte Plotek, um ihr ein für alle Mal Einhalt zu gebieten.
Apropos: Bei Expressionismus und Ernst Ludwig Kirchner erinnerten sich Plotek und Vinzi natürlich zwangsläufig an Marcella. An den Verkauf des zu Unrecht erlangten Bildes. An 80 000 Euro im Katheterbeutel. Und damit an die Befürchtung, dass alles, also die Tote im Zug, der makabre Kabinenservice, der geschundene und verschwundene Pastor, damit Zusammenhängen könnte.
Vogler-Huth ließ sich keineswegs bremsen. Sie lachte besserwisserisch. »Nein, nein, meine Herren, Paula Modersohn-Becker.« Das klang bei ihr wie »die Heilige Jungfrau Maria«. Und tatsächlich, ihr Blick bekam etwas Verklärtes. Etwas Flirrendes. Ihre blauen Augen wurden zu blauen Pfützen, zu Seen, ja zu Meeren, auf denen Paula Modersohn-Becker wie weiland der Heiland auf dem Wasser dahingeschritten war. »Ich vergöttere sie.«
O Gott, dachte Plotek. Er musste bei Paula Modersohn-Becker immer und zwangsläufig an Annette von Droste-Hülshoff denken, mit der er im Deutschunterricht, damals im Schwäbischen, bis zum Erbrechen gequält worden war. Vor allem mit ihrer Judenbuche.
Wb ist die Hand so zart, dass ohne Irren/Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren, /So fest, dass ohne Zittern sie den Stein / Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?/Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,/ Zu wägen jedes Wort, das unvergessen /ln junge Brust die zähen Wurzeln trieb,/Des Vorurteils geheimen Seelendieb ?/Du Glücklicher, geboren und gehegt Um lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,/Leg hin die Waagschal‘, nimmer dir erlaubt! /Lass ruhn den Stein - er trifft dein eignes Haupt!
Meinetwegen, dachte Plotek. Von da an war ihm Droste-Hülshoff für alle Ewigkeit vergällt. Mehr noch: Was Plotek auch nur im Entferntesten an Droste-Hülshoff erinnerte, war bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag kontaminiert. Emotional, inhaltlich, phonetisch. Marie Luise Kaschnitz, Hildegard von Bingen, Herta Däubler-Gmelin, Hildegard Hamm-Brücher, Silvana Koch-Mehrin, Florian Henckel von Donnersmarck. Und Hand aufs Herz: Ob mit oder ohne Paula Modersohn-Becker, Plotek konnte mit dem frühen Expressionismus nur wenig anfangen. Wie auch mit dem Jugendstil. Das alles war ihm zu dekorativ, zu ornamentlastig, zu symmetriehaft. Zu viele geschwungene Linien. Zu große Stilisierung. Zu viele Türmchen. Zu viel Toulouse-Lautrec. Bei Jugendstil musste Plotek immer an neckische Frauenunterwäsche denken. An Büstenhalter mit fein verschnörkelten Blumenstickereien. Im Prinzip nichts Schlechtes. Aber wenn man die Büstenhalter an jeder Hausfassade hängen und jeder Tischlampe leuchten sieht, fängt es dann doch an zu nerven. Mehr noch: Man wird ihrer überdrüssig. Lässt dann die Frau des Herzens das Kleid fallen, was bei Plotek leider selten vorkommt, und gelangt so die verführerische Unterwäsche zum Vorschein, lässt das den Mann kalt. Der Jugendstil ist der Tod jeder Sinneslust. Oder eben etwas für sechzigjährige Physiotherapeutinnen mit Schwerpunkt Osteopathie, eigener Praxis und Hang zu Modersohn-Becker. Für Arztgattinnen mit Faible für Fengshui nach der Menopause. Für Gymnasiallehrerinnen mit Reihenhaushälfte und einem Abo der Brigitte. Aber nichts für arbeitslose Schauspieler mit einem erheblichen Alkoholproblem. Auch nichts für beinamputierte Vorruheständler mit Sympathie für Rimbaud und Zynismus. Da war Plotek das schlichtere und funktionalere Bauhaus dann doch lieber.
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