Ahoi Polaroid
hätte ihm der Jugendstil den Garaus gemacht. Der war, wie es schien, nicht nur der Tod jeder Sinneslust, sondern auch der Untergang aller dreibeinigen Hunde.
»Scheiße!«
Ein dreibeiniger Hund findet überall Anschluss, dachte Plotek. Wenn auch nur aus Mitleid. Er machte sich überhaupt keinen Sorgen. Vinzi hingegen wirkte, als wäre ihm ein weiterer Teil seines Körpers abhandengekommen.
Er hielt weiterhin erfolglos Ausschau nach dem Hund, während Plotek ihn zurück zum Schiff schob. Von allen Seiten strömten die Passagiere herbei, als wäre die MS Finnmarken die Arche Noah.
Schließlich legte sie ab. Die Reise ging weiter.
Das Schiff steuerte den Geirangerfjord an, der zum Weltnaturerbe der UNESCO zählt. Es ist eine monumentale Schmelzwasserrinne inmitten von hohen Bergen, in der sich das Schiff zum Teil durch enge Felsschluchten zwängt, die über dem grünblauen Wasser oft mehr als tausend Meter emporragen. Majestätisch.
Plotek und Vinzi standen auf der Promenade am Deck 8 und rauchten den Schwarzen Afghanen aus dem Rollstuhlgriff klein. Vinzi trauerte noch immer um den Hund. Er ließ die Landschaft links liegen. Er ignorierte gigantische Wasserfälle, Gehöfte, die akrobatisch auf Felssimsen balancierten, und überhaupt ein Naturschauspiel, das als eines der Höhepunkte auf der Hurtigruten-Reise galt. Er starrte unbeeindruckt über die Reling hinweg, als hätte er die Worte eines gewichtigen deutschen Dichters im Ohr: sich abfinden und gelegentlich auf Wasser sehn. Plotek hingegen, im normalen Leben kein ausgewiesener Naturliebhaber oder ein an ökologischen Sinneseindrücken interessierter Mensch, konnte sich der Faszination dieses Anblicks nicht entziehen.
»Die Landschaft ist so schön, dass es innerlich schmerzt«, sagte Ruedi Eschenbach, als er neben ihnen auftauchte und versuchte, mit einer kleinen Digitalkamera alles für die Ewigkeit einzufangen. Oder zumindest für seine heimatliche Schweiz. »Liv Ullmann hat das mal gesagt!«
Persona, dachte Plotek. Ingmar Bergman. Die Patientin in dem Film, die plötzlich beschlossen hatte, nicht mehr zu sprechen. Mit niemandem. Er warf einen Blick auf Vinzi, der weiterhin desinteressiert auf die Wasseroberfläche starrte.
»Und sie hat Recht!« Eschenbach quatschte munter drauflos, wie ein Reiseführer. Als wäre er vom norwegischen Touristikamt engagiert worden. Undercover sozusagen. »Ist das nicht ein tiefgründiges Naturschauspiel? Eine grandiose Kulisse? Ein Naturwunder aus düsterem Pathos und nutzloser Schönheit?« Nicht als Frage, eher rhetorisch.
»Hmm.« Plotek klang unentschieden.
»In diesen verwegenen Trogtälern, in der Eiszeit geformt, ist Norwegen so norwegisch wie es nur sein kann. Gletscher, Berge, Wiesen, Wasser, herrlich«, sagte Ruedi Eschenbach und filmte dabei mit seinem kleinen Camcorder, was das Zeug hielt. Der Camcorder konnte laut Eschenbach alles. Er war so selbstständig und autark, als könnte er sogar denken.
»Wo ist denn unser Herr Pfarrer?«, fragte Eschenbach irgendwann. Er sah offenbar mit der Abwesenheit des Pastors die Hochzeit seines Sohnes in unerreichbare Ferne rücken.
»Im Himmel«, antwortete Plotek ganz nebenbei. Mehr zu sich selbst als an Eschenbach gewandt. Vinzi spuckte aufs Wasser. Ruedi Eschenbach lachte herzhaft, als wär’s ein Scherz. Einer von den ganz besonders guten. »Sie haben Recht, das hier ist in der Tat der Himmel auf Erden.«
»Hmm.«
»Sehen Sie, da!« Er zeigte mit dem Arm auf mehrere Wasserfälle, die zum Greifen nah und mit tosendem Lärm von einem Felsen Hunderte Meter in die Tiefe stürzten, ganz dicht nebeneinander, wie Tränenrinnsale einer traurigen Gottheit.
»Die sieben Schwestern.« Ruedi Eschenbach schrie jetzt, als müsste er die sieben flennenden Schwestern beruhigen. Er filmte dabei jede Einzelne so ausgiebig, als wollte er daraus in seinen Engadiner Bergen einen abendfüllenden Naturfilm schneiden.
»Sechs«, sagte Vinzi plötzlich. Ohne vom Wasser aufzublicken. Plotek erschrak. Auch Ruedi Eschenbachs ansonsten ruhige Hand wackelte kurz.
»Es sind nur sechs.«
Tatsächlich. Nachdem Plotek mehrmals die Wasserfälle durchgezählt hatte, kam auch er auf nur sechs. Den sieben Schwestern schien eine abhandengekommen zu sein. Egal. Ruedi Eschenbach filmte so entschlossen weiter, als wollte er auch die fehlende Schwester festhalten. Dann schwenkte er seine Digitalkamera steuerbord auf die andere Seite des Fjords. Wo ebenfalls ein Wasserfall einen Felsen
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